Horst Wessel – Untersuchung einer Legende

Horst Wessel: SA-Sturmführer, Liedtexter und bekanntester „Blutzeuge“ aus der „Kampfzeit“ der nationalsozialistischen Bewegung. Es gibt heute nur noch wenige Zeitzeugen, die aus eigenen Kindheitserinnerungen von der Zeit berichten können, in der Horst Wessel wirkte. Die 20er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts waren raue Jahre, die geprägt waren von Saal- und Straßenschlachten, von Überfällen und politischen Attentaten, von bitterer Armut und einer nachhaltigen Wirtschaftskrise, die schließlich den letzten Nagel in den Sarg der Weimarer Republik schlagen sollte.

Diese Epoche verlässt nun den Bereich der Zeitgeschichte, da wir sie heute nicht mehr durch direkte Überlieferung von Zeitzeugen, sondern nur noch anhand historischer Dokumente, Bildern und Videoaufnahmen nachvollziehen können. Eines ist jedenfalls sicher: Der Name Horst Wessel wird die Zeitgeschichte überdauern und noch für lange Zeit vielen historisch interessierten Menschen ein Begriff bleiben. Doch wer war dieser Horst Wessel wirklich, wie lebte, dachte und handelte er? Was trieb einen evangelischen Pfarrersohn dazu, sein Jura-Studium aufzugeben, um sein Leben voll und ganz der nationalsozialistischen Idee zu verschreiben? Und warum zieht Horst Wessel noch heute sowohl Bewunderung als auch Hass auf sich? So, wie Wessel auch 90 Jahre nach seinem Tod von heutigen Nationalsozialisten verehrt wird, genauso muss er noch heute als Zielscheibe für kommunistischen Hass und Verleumdungen herhalten, wie es beispielsweise in der „alternativ-historischen“ Fernsehserie „Babylon Berlin“ zu sehen ist.

Trotz der zahlreichen Quellen über das Leben und Sterben von Horst Wessel ist es zunächst gar nicht so einfach, sich ein objektives Bild zu machen. Bei den zeitgenössischen Texten handelt es sich entweder um kommunistische Schmähschriften oder um propagandistisch eingefärbte Texte aus nationalsozialistischer Sicht. Als wahrer Glücksfall erweist sich die Monographie „Horst Wessel. Untersuchung einer Legende“ von Thomas Oertel. Die wissenschaftliche Ausarbeitung wurde 1987 als Dissertation an der Technischen Universität Braunschweig eingereicht und im Folgejahr im Kölner Böhlau-Verlag publiziert. Oertel verfolgte mit seiner Monographie keine politischen Zwecke, sondern ist redlich um Objektivität und Sachlichkeit bemüht. Seine Publikation, die heute antiquarisch für 10-15 Euro zu bekommen ist, stellt die wissenschaftliche Grundlage für den vorliegenden Aufsatz dar. Wo es uns nötig erschien, haben wir ergänzend weitere Quellen aus der Primär- und Sekundärliteratur herangezogen.

Die Dissertation von Thomas Oertel aus dem Jahr 1987 gilt als einzige objektive, wissenschaftliche Ausarbeitung zum Leben und Sterben von Horst Wessel

Ein Pfarrersohn auf Sinnsuche

Horst-Ludwig Wessel wurde am 9. Oktober 1907 als erstes Kind des evangelischen Pastors Dr. Wilhelm Ludwig Georg Wessel und dessen Frau Luise Margarete in Bielefeld geboren. Kurze Zeit später zog die Familie nach Mülheim an der Ruhr, wo die Geschwister Ingeborg und Werner geboren wurden. Im November 1913 siedelte die fünfköpfige Familie nach Berlin über, wo der Vater eine Pfarrstelle in der Nikolaikirche angenommen hatte.

Der junge Horst Wessel, der 1922 von der Volksschule auf das Gymnasium wechselte, zeigte früh politische Interessen und Ambitionen. Im Spätsommer 1922 trat der 14-Jährige in die „Bismarckjugend“ein, die Jugendorganisation der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP). Laut den Eintragungen in Wessels Tagebuch hatten ihn mehrere Klassenkameraden in die Organisation eingeführt, doch wir dürfen annehmen, dass auch die politische Prägung durch den Vater einen nicht unerheblichen Einfluss auf die Entscheidung des Schülers hatte. Pastor Wessel war selbst überzeugter Deutschnationaler und agitierte in einem von ihm selbst gegründeten Bürgerverein gegen das Versailler Diktat und die Nachkriegsordnung der „Novemberverbrecher“.

Die Bismarckjugend setzte sich wie ihre Mutterpartei für die Wiederherstellung des deutschen Kaisertums auf christlicher Grundlage ein. Innerhalb seiner Ortsgruppe gründete Horst Wessel einen paramilitärischen „Selbstschutz“, mit dem er nicht nur die Durchführung von Veranstaltungen der DNVP absicherte, sondern bereits erste Erfahrungen im Straßenkampf mit Kommunisten und Angehörigen des republikanischen „Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold“ sammelte. Enttäuscht über die mangelnde Einsatzbereitschaft seiner Kameraden, legte er sein Amt als „militärischer Führer“ jedoch bald nieder. Innerlich rückte der Gymnasiast bereits von den politischen Vorstellungen der Bismarckjugend ab, zumal durch den frühen Tod des Vaters im Mai 1923 das persönliche Leitbild verloren gegangen war. Die eigentümliche Traditionspflege, das rückwärtsgewandte Hoffen auf eine Restauration des untergegangenen Kaiserreiches – all das waren nicht die Ziele, mit denen sich der junge Horst Wessel identifizieren konnte. Vor allem war es ihm ein Dorn im Auge, dass die DNVP im parlamentarischen Weimarer System mitspielte und sich sogar als Koalitionspartner für linke Parteien andiente. Wessel hingegen forderte nicht nur bloße Opposition, sondern Fundamentalopposition gegen das gesamte Weimarer „System“.

Wessels Geburtshaus und Eingangsbereich an der August-Bebel-Straße 37 in Bielefeld; die frühere Kaiserstraße wurde 1933 in Horst-Wessel-Straße und 1945 in August-Bebel-Straße umbenannt. – Wie die Straße wohl in 20 Jahren heißen wird?

Als der 17-Jährige im Februar 1925 seinen Austritt aus der Bismarckjugend erklärte, war er bereits seit über einem Jahr Mitglied eines anderen Bundes: Beim „Wiking-Bund“, in den Wessel im Dezember 1923 eingetreten war, handelte es sich um eine Nachfolgevereinigung der berüchtigten „Organisation Consul“ (OC) unter der Führung des legendären Freikorpskämpfers Hermann Ehrhardt. Im Gegensatz zur OC war der Wiking-Bund jedoch keine Geheimorganisation. Hier traf Wessel erstmals auf radikale Nationalisten, von denen einige bereits das Hakenkreuz als Erkennungszeichen trugen. Innerhalb des Wiking-Bundes übernahm er mit seiner Einheit den Saalschutz für völkische Parteien und verdiente sich seine Meriten als mutiger Zugführer beim Besuch von Versammlungen des politischen Gegners. In diesem Zusammenhang wird es sicherlich von Vorteil gewesen sein, dass Wessel seine Kameraden in der Selbstverteidigungstechnik des Jiu-Jitsu unterweisen konnte, nachdem er beim früheren deutschen Meister Erich Rahn einen Kursus absolviert hatte. Mit den Verboten und Umbenennungen wuchs jedoch die Unzufriedenheit Wessels mit seinem Chef Hermann Ehrhardt, der seinerseits nun einen „legalistischen“ Kurs einschlagen wollte und seine Verbände in den reaktionären „Stahlhelm“ überführte. Desillusioniert verließ der 19-Jährige, der mittlerweile die Reifeprüfung abgelegt und ein Jura-Studium begonnen hatte, den Wiking-Bund im Spätherbst 1926.

Wessel entdeckt eine politische Idee

Wie fand der junge Student Horst Wessel eigentlich zum Nationalsozialismus? Es wäre jedenfalls zu kurz gedacht, Wessels Hinwendung zur NSDAP nur in dem „Dagegensein“, in der Opposition zum Weimarer System zu suchen. Im Nationalsozialismus fand Wessel zum ersten Mal eine weltanschauliche Idee, und dieser Idee sollte er sich für den Rest seines kurzen Lebens vollkommen verschreiben. Er selbst notierte dazu in seinen Tagebuchaufzeichnungen: „Im Vergleich zu früheren Organisationen, denen ich angehörte, ist die Tätigkeit in der NSDAP ganz anders geartet. Das Soldatenspielen fällt weg. Politische Schulung, das ist die Losung (…) Ich fing, im Gegensatz zu früher, an, politisch zu denken. Bismarckbund, das war Freude und Vergnügen, Wiking, das war Abenteuer, Putschatmosphäre, Soldatenspielerei, wennschon auf nicht ungefährlichem Untergrund. NSDAP aber war politisches Erwachen.“ Aus Wessels Sicht war der Eintritt in die NSDAP am 7. Dezember 1926 (Mitgliedsnummer 48.434) und der zeitgleiche Eintritt in die SA also die konsequente Weiterentwicklung seiner bisherigen politischen Tätigkeit.

NSDAP und SA befanden sich in der deutschen Hauptstadt damals noch in einer Konsolidierungsphase. Nach der Aufhebung des NSDAP-Verbotes in Preußen 1925 und der Neugründung der SA wurde ein junger Parteiredner aus dem Rheinland zum Gauleiter des Gaues Groß-Berlin berufen: Dr. Joseph Goebbels. Die SA-Verbände wurden aus der politischen Organisation der NSDAP herausgelöst und zu selbständigen Abteilungen erklärt, die nicht mehr der Parteiführung unterstellt waren. Horst Wessel versah seinen Dienst nun als SA-Mann in der Abteilung Bötzow-Viertel der Standarte 1 im Prenzlauer Berg. Der ständige Aktivismus, von Gauleiter Goebbels leidenschaftlich befeuert, ließ in der Berliner SA das Gefühl eines permanenten Wahlkampfes entstehen. Der Alltag war geprägt von politischen Werbefahrten und Überzeugungsarbeit auf der Straße, von Saalschlachten in eigenen oder gegnerischen Versammlungen und Propagandamärschen, die mit besonderer Vorliebe durch die roten Arbeiterviertel der Hauptstadt durchgeführt wurden. Mit wagemutigen Aktionen sollte die NS-Bewegung ihren Bekanntheitsgrad steigern und so nach und nach die Straße von der Kommune zurückerobern, so lautete Goebbels‘ Strategie für den „Kampf um Berlin“.

Zeitgleich zum Antritt seines Jura-Studiums im Sommersemester 1926 trat Wessel in das Korps Normannia ein

Während einer weiteren Verbotszeit zwischen Mai 1927 und März 1928 legte sich die Berliner SA Tarnnamen zu und arbeitete im Geheimen weiter. Wessels SA-Abteilung war plötzlich ein „Heimat- und Wanderverein“ namens „Edelweißklub“. Für diese Tarnorganisation schuf Wessel auch sein erstes politisches Kampflied, das „Edelweißlied“. Nachdem das NSDAP-Verbot in Preußen wieder einmal aufgehoben worden war, erfolgte die Neuaufstellung der SA: Die Berliner Sturmabteilung mit einer Gesamtstärke von rund 800 Mann wurde in Trupps und Stürme gegliedert, die wiederum in Standarten zusammengefasst wurden. Wessel gehörte nun zum SA-Sturm 1 – Alexanderplatz, zugleich übernahm er die Funktion eines Straßenzellenleiters der NSDAP. Eine solche Doppelfunktion war damals sehr ungewöhnlich, nach den Statuten der Partei war sie eigentlich sogar verboten. Der Umstand, dass niemand an Wessels Doppelfunktion Anstoß nahm, zeigt das politische Potential, das seine Vorgesetzten in dem jungen SA-Mann erkannt haben.

Neben seinen zahlreichen Aufgaben in Partei und SA machte sich Wessel auch als Verfasser von politischen Kampfliedern einen Namen. Häufig übernahm er bereits bekannte Melodien, die er mit neuen Texten versah, so auch bei dem Lied „Kameraden, lasst erschallen“. Wahrscheinlich im März 1929 verfasste Wessel einen Text, der im weiteren Verlauf zum bekanntesten Kampflied der nationalsozialistischen Bewegung werden sollte. Die Melodie hatte er vermutlich bei einem privaten Wien-Aufenthalt im Jahr zuvor aufgeschnappt, da sie in Österreich in zahlreichen Variationen zu Reservisten-, Volks- und Bänkelliedern gesungen wurde. Es ist also gut möglich, dass Wessel eines Tages durch die Straßen von Wien schlenderte und an einem Leierkasten jene Melodie aufschnappte, die wenige Jahre später jeder Deutsche kennen sollte. „Die Fahne hoch!“, später bekannt als „Horst-Wessel-Lied“, wurde erstmals am 26. Mai 1929 von Berliner SA-Einheiten gesungen. Seinen „Durchbruch“ sollte das Lied allerdings erst nach Wessels Ermordung erleben, als es in den Rang einer Parteihymne der NSDAP erhoben wurde. Während der NS-Zeit wurde das Lied bei offiziellen Anlässen häufig im Anschluss an die Nationalhymne gesungen. – Heute ist nicht nur das öffentliche Singen, sondern sogar das Summen der Melodie des Horst-Wessel-Liedes unter Strafandrohung verboten.

Horst Wessel als Sturmführer

Am 1. Mai 1929 übernahm Wessel die Leitung eines SA-Trupps im Sturmbezirk Friedrichshain, in unmittelbarer Nähe seines Elternhauses. Zwar waren ihm bereits höhere Positionen in Partei und SA angeboten worden, doch der 21-Jährige hegte offenbar kein großes Interesse, in die „große“ Politik einzusteigen. Stattdessen blieb er als Truppführer auf Tuchfühlung mit seinen SA-Männern. Binnen zwei Wochen nach Amtsübernahme verdreifachte Wessel die Zahl der Mitglieder seines Trupps auf 83 Personen. Als Auszeichnung für den Mitgliederzuwachs, der vor allem durch Werbeabende und andere Propagandaarbeit entstanden war, wurde Wessels Trupp am 19. Mai zum „Sturm“ erhoben.

Der frischgebackene Sturmführer intensivierte seinen Aktivismus nun noch einmal: Die wöchentlichen Sturmabende wurden von reinen Geselligkeitstreffen in Schulungs- und Kameradschaftsabende umgewandelt, die das weltanschauliche Fundament seiner Männer heranbilden sollten. Für die besonders waghalsigen Unternehmungen hatte Wessel unter den Mitgliedern seines Sturmes sogenannte „Stoßtrupps“ gebildet, die aus zuverlässigen und bewährten Männern bestanden. Jene Stoßtrupps begleiteten ihren Anführer auch bei einer gänzlich neuen Form der Propaganda: die Agitation direkt im Sturmlokal des Gegners. Störaktionen und Saalschlachten waren damals zwar bereits an der Tagesordnung, doch Wessel stellte die Provokation des politischen Gegners auf eine neue Stufe: Am Abend des 22. August 1929 ließ er von seinen Männern ein kommunistisches Sturmlokal umstellen, dann betrat Wessel die Lokalität und begann damit, vor den irritierten Rotfrontkämpfern eine Rede zu halten. In Anbetracht der ständigen Propagandaarbeit und den permanenten Konfrontationen mit dem politischen Gegner ist es schon erstaunlich, dass Wessel während dieser ganzen Zeit nur zweimal von der Polizei festgehalten beziehungsweise vernommen wurde; es gab in der ganzen Zeit keine Anklagen oder Prozesse gegen ihn.

Dabei steht es außer Frage, dass es Wessel besonders auf die Auseinandersetzungen mit den Kommunisten abgesehen hatte. Im August 1929 kam es zu einer weiteren unerhörten Provokation des Gegners, indem sein Sturm eine eigene Schalmeienkapelle aufstellte. Diese Instrumente, deren Verwendung nur beim Roten Frontkämpferbund gebräuchlich war, waren bei der SA eigentlich verboten. Wessel hatte sich jedoch bei seinen Vorgesetzten eine Sondergenehmigung eingeholt, sodass sein Sturm einen eigenen Musikzug aufstellen durfte, der auf den Straßen Berlins schnell eine gewisse Berühmtheit erlangte. Die Unterrichtung der SA-Männer in der Handhabung der Instrumente geschah übrigens durch ehemalige Rotfrontkämpfer, die zu Wessels Sturm „übergelaufen“ waren.

Dem Sturmführer Wessel ging es allerdings nicht nur um die reine Provokation, um Nervenkitzel und Schlägereien – schließlich wollte er im deutschen Volk für jene Ideen werben, die ihm wichtiger waren als sein Studium und eine spätere Juristenlaufbahn. Wessel unternahm mit seinem Sturm verstärkt politische Aufklärungsfahrten in die ländliche Umgebung Berlins, um auch die Menschen in der Peripherie für seine politischen Ziele zu gewinnen. Neben seinen Funktionen in der SA betätigte sich Wessel als Ausspracheredner und Referent für die NSDAP. Mit 56 Redeauftritten bei Versammlungen war er 1929 sogar der am zweithäufigsten beanspruchte Parteiredner in ganz Berlin nach Dr. Goebbels.

Die Kombination aus Organisations- und Führungstalent, rhetorischer Begabung, persönlichem Charisma und seinen Erfolgen beim Abwerben von Rotfrontkämpfern für seinen SA-Sturm ließ ihn zu einer idealen Hassfigur für die Kommunisten werden, die ihm schon bald nach dem Leben trachten sollten…

Kommunistische Mordhetze und das Attentat auf Horst Wessel

Das ohnehin raue politische Klima auf den Straßen Berlins heizte sich immer weiter auf. Der KPD-Führer Heinz Neumann hatte die Parole ausgegeben: „Schlagt die Faschisten, wo ihr sie trefft!“ In dieser Zeit wurde auch das noch heute bei Linksextremisten gebräuchliche „Steckbriefsystem“ erfunden. Ein kommunistisches Flugblatt rief sogar unverhohlen zum Mord auf Horst Wessel auf: Neben einer Karikatur, die Wessel mit einem Messer in der Hand zeigte, stand geschrieben: „Wie lange noch? Roter Arbeiter, merk Dir das Gesicht! Horst Wessel, Sturmführer – Arbeitermörder“. Darunter stand die (allerdings fehlerhafte) Angabe seiner Wohnanschrift.

Das Sozialmilieu, in dem sich Wessels Sturmbezirk befand, war geprägt von kurzen, verwinkelten Straßen, maroder Bausubstanz und verdreckten Hinterhöfen. In Kellerlokalen und Stehbierhallen tummelten sich Diebe und Hehler, Zuhälter und Prostituierte. Der Pfarrersohn, Jura-Student und SA-Sturmführer Horst Wessel hatte keinerlei Berührungsängste, diese Hehler- und Lasterbörsen Berlins aufzusuchen, um auch unter den Ärmsten und Abgehängten, den Abgestürzten und auf die schiefe Bahn Geratenen für seine politischen Ideen zu werben.

Bei einem dieser Kneipenbesuche lernte er die Gelegenheitsprostituierte Erna Jaenichen kennen. Beide verliebten sich ineinander, Wessel zog in Ernas Wohnung und half ihr, aus dem Prostituierten-Milieu herauszukommen. Wenig später erklärten sie ihre Verlobung. Im Oktober 1929 nahm Wessel als Untermieter ein Zimmer in der Großen Frankfurter Straße 62. Als die Vermieterin, Frau Salm, im Spätherbst des Jahres verreiste, überließ sie Wessel die Nutzung der gesamten Wohnung gegen Zahlung einer „Abstandssumme“, eine damals gebräuchliche Zahlung eines Geldbetrages des Nachmieters an den Vormieter. Wessel holte Erna daraufhin zu sich, und sie bezogen ihre gemeinsame Wohnung. Da sie auf Bitten ihres Verlobten die Tätigkeit als Prostituierte aufgegeben hatte, musste Wessel nun für den gemeinsamen Lebensunterhalt allein sorgen. Zunächst nahm er eine Stelle als Taxifahrer an, später arbeitete er als Sandschipper beim Bau der Berliner U-Bahn. Zeit zum Studieren hatte er nun allerdings nicht mehr, sodass er sein Jura-Studium zum Wintersemester 1929/30 an den Nagel hängte. Kurz vor dem Weihnachtsfest 1929 erlitt Wessel einen Schicksalsschlag, als sein Bruder Werner bei einem Verkehrsunfall ums Leben kam. Um den Verlust zu verarbeiten und seiner Mutter in dieser schweren Zeit beizustehen, hielt er sich bis Anfang Januar 1930 in der elterlichen Wohnung auf.

Die Anschrift auf diesem kommunistischen Flugblatt war fehlerhaft: Wessel wohnte nicht in der Kleinen, sondern in der Großen Frankfurter Straße 62

Als Frau Salm, die 28-jährige Vermieterin Wessels, in ihre Wohnung zurückkehrte, verlangte sie von Erna eine zusätzliche Mietzahlung, was Wessel unter Verweis auf die gezahlte Abstandssumme verweigerte. Die weitere Anwesenheit Ernas in der Wohnung führte immer wieder zu Reibereien zwischen den beiden Verlobten auf der einen und der Vermieterin auf der anderen Seite. Die früh verwitwete Frau Salm erinnerte sich nun der politischen Kontakte ihres verstorbenen Mannes, eines überzeugten Kommunisten, und beschloss, bei den Genossen um Hilfe nachzusuchen. Am 14. Januar 1930, am frühen Abend, betrat die Salm in Begleitung ihrer Stiefschwiegermutter ein kommunistisches Sturmlokal, wo die KPD gerade eine Funktionärsversammlung abhielt. Hier trug sie dem Kommunisten Max Jambrowski ihr Anliegen vor und bat ihn, ihr bei der Streitigkeit mit ihrem Untermieter zu helfen. Jambrowski zeigte zunächst kein Interesse, wurde aber hellhörig, als die Salm ihm mitteilte, dass es sich bei ihrem Untermieter um den SA-Sturmführer Horst Wessel handele. Jambrowski soll daraufhin ausgerufen haben: „Ach, das ist ja der lang gesuchte Wessel!“ Des Weiteren behauptete sie, Wessel sei im Besitz von zwei Pistolen, einer Mitgliederliste des Roten Frontkämpferbundes und weiteren belastenden Materials.

Jambrowski sagte der Salm nun sofortige Unterstützung zu und kümmerte sich um Verstärkung. Er informierte den Führer der 3. Bereitschaft des RFB, Rückert, und dessen Stellvertreter Alfred (Ali) Höhler. Die 3. Bereitschaft war zuvor geschlossen aus dem „Ring-Verein“, ein berüchtigtes Berliner Verbrechersyndikat, zu den Kommunisten übergetreten – sie war also eine reine Ansammlung von Kriminellen. Allein Höhler war bereits 16-mal vorbestraft, unter anderem hatte er wegen Hehlerei, Meineid und Zuhälterei im Zuchthaus gesessen. Insgesamt beteiligten sich an dem Überfall auf Horst Wessel elf oder zwölf Personen, davon neun Männer und zwei oder drei Frauen. Unter den Frauen befand sich auch Else Cohn, Mitglied des Antifaschistischen Mädel- und Frauenbundes. Vermutlich wurde auf dem Weg zum Tatort beschlossen, Wessel nicht nur eine „proletarische Abreibung“ zu verpassen, sondern den verhassten Sturmführer endgültig auszuschalten.

Die Tatausführung verlief wie folgt: Die Salm übergab den Schrankschlüssel an die Täter und ging in ihre Wohnung voraus, die anderen folgten im Abstand von 15-20 Minuten nach. Am Haus wurden Posten aufgestellt, dann begaben sich Höhler, Rückert, Else Cohn und Walter Jambrowski in die Küche der Salm, während sich dessen Bruder Max Jambrowski, der eigentliche Initiator des Überfalls, geschickt im Hintergrund hielt. Kurze Zeit später betrat mit Josef Kandulski ein weiterer Täter die Küche. Höhler und Rückert machten ihre Pistolen schussbereit und klopften an die Tür von Wessels Zimmer, der sich in Gesellschaft seiner Verlobten und ihrer Freundin Klara Rehfeld befand. Da Wessel Besuch seines befreundeten Sturmführers Richard Fiedler erwartete, öffnete er arglos die Tür. Höhler rief „Hände hoch!“ und feuerte im selben Augenblick direkt ins Gesicht seines Opfers. Höhler, Rückert und Kandulski betraten das Zimmer und durchsuchten den Schrank. Sie fanden eine Pistole und einen Gummiknüppel, nicht jedoch die dort vermeintlich deponierten Unterlagen. Während die Täter den Raum verließen, rief Höhler dem schwerverletzten Wessel zu: „Du weißt ja wofür!“ Anschließend flüchteten die Täter in ihre Sturmlokale.

Zur Motivation der Täter kann im Wesentlichen der Einschätzung Thomas Oertels gefolgt werden, dass es keinen konkreten Mordauftrag für diesen Zeitpunkt und für diese Täter seitens der KPD gegeben hatte. Allerdings ist es durchaus naheliegend, dass man in der KPD-Führung hoffte, irgendwer würde den „Fall Wessel“ schon in die Hand nehmen, zumal es in den Monaten zuvor entsprechende Agitation und Aufrufe gegen den meistgehassten Sturmführer Berlins gegeben hatte. Die Täter – allesamt Mitglieder der KPD – durften also zumindest davon ausgehen, ganz im Sinne ihrer Partei zu handeln. Dass sie mit der Ermordung Wessels zugleich einen Mythos heraufbeschworen hatten, dürfte ihnen damals allerdings noch nicht in den Sinn gekommen sein.

Ein Mythos wird geboren

Das Geschoss, das Höhler seinem Opfer in den Rachen feuerte, zerfetzte Wessels Gaumen und Zunge, vier Backenzähne wurden herausgeschlagen und ein Wirbelknochen zerschmettert. Wessel wurde am Abend im St. Joseph-Krankenhaus notoperiert, das im Kleinhirn steckengebliebene Geschoss konnte herausoperiert werden. Während der folgenden sechs Wochen wurde sein Krankenzimmer Tag und Nacht von Angehörigen seines Sturmes bewacht. Wessel war die ganze Zeit über ansprechbar, empfing Besuche von Familienangehörigen und Kameraden, doch sein Gesundheitszustand blieb weiterhin sehr kritisch. Mitte Februar trat eine überraschende Besserung des Allgemeinzustandes ein, die aber nur wenige Tage anhielt. Der SA-Sturmführer Horst Wessel starb am Morgen des 23. Februar 1930 mit nur 22 Jahren an den Folgen einer Blutvergiftung.

Das Begräbnis am 1. März 1930 auf dem Berliner St. Nikolai-Friedhof konnte nur unter strengen polizeilichen Auflagen stattfinden, ohne klassischen Trauerzug, ohne Uniformen, Hakenkreuzfahnen und nationalsozialistischen Abzeichen. Insbesondere beim An- und Abmarsch kam es zu Schlägereien mit Kommunisten, die immer wieder versuchten, die Trauergäste anzugreifen. Die polizeilichen Weisungen galten nicht für die Beisetzung auf dem Friedhof, sodass die Trauerfeier unter allen damals üblichen nationalsozialistischen Weihen stattfinden konnte. Am Grab sprachen unter anderem Dr. Goebbels und SA-Führer von Pfeffer. Adolf Hitler, der seine Teilnahme ursprünglich zugesagt hatte, erschien aufgrund der angespannten Atmosphäre jedoch nicht – wahrscheinlich sollten keine Bilder des nationalsozialistischen „Kanzlerkandidaten“ inmitten einer Straßenschlacht entstehen.

Der von Schutzpolizei begleitete Trauerzug für Horst Wessel

Die Täter Höhler und Rückert waren unmittelbar nach der Tat untergetaucht und hatten bei ihrer Flucht Unterstützung von der KPD und der Roten Hilfe erhalten, beide konnten jedoch kurze Zeit später festgenommen werden. Der Prozess gegen die Täter und Gehilfen dauerte nur wenige Verhandlungstage und fand unter großer öffentlicher Anteilnahme statt, die Presse war durchgängig mit 20-30 Berichterstattern vor Ort. Die Urteile für den brutal und skrupellos ausgeführten Mord an Horst Wessel können selbst für damalige Verhältnisse als ausgesprochen mild angesehen werden: Die ausführenden Haupttäter Höhler und Rückert wurden wegen gemeinschaftlichen Totschlags und unbefugten Waffenbesitzes zu je sechs Jahren und einem Monat Zuchthaus verurteilt. Kandulski bekam wegen gemeinschaftlichen Totschlags und Diebstahls fünf Jahre und einen Monat Zuchthaus. Max Jambrowski, der eigentliche Strippenzieher im Hintergrund, bekam lediglich zwei Jahre auf Bewährung. Die anderen Mittäter und Gehilfen wurden zu Gefängnis- und Bewährungsstrafen zwischen vier Monaten und anderthalb Jahren verurteilt.

Das Grab von Horst Wessel und seinem Vater Ludwig Wessel auf dem Berliner St.-Nikolai-Friedhof in Berlin-Friedrichshain, das bis heute von Gästen aus aller Welt besucht wird / Wikimedia Creative Commons Theo Schneider (Fotograf)-CC-by-sa 3.0/de

Das letzte Wort im Mordfall Horst Wessel war damit allerdings noch nicht gesprochen. Nach der nationalsozialistischen Machtübernahme wurden einige politische Prozesse aus Weimarer Zeiten, die nach Ansicht der neuen Autoritäten nochmal überprüft werden sollten, wieder neu aufgerollt. Der Prozess gegen die Mörder von Horst Wessel wurde ebenfalls neu verhandelt und endete mit der Anordnung der nachträglichen Sicherheitsverwahrung gegen den Angeklagten Rückert. Der Todesschütze Ali Höhler war für die Verhandlung aus einem schlesischen Zuchthaus nach Berlin überstellt worden, doch bevor es zum Prozess kam, wurde er aus dem Gefängnis entführt und der Berliner SA-Führung ausgeliefert. Man fand seine verscharrte Leiche in einem Waldstück östlich von Berlin.

Erstveröffentlichung in N.S. Heute #31

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