Sondergesetze sind üblicherweise ein Zeichen für autoritäre Regime oder von Diktaturen. In der Bundesrepublik hat eine unterschiedliche Behandlung eine jahrzehntelange Tradition. Da gibt es beispielsweise die Strafgesetz-Paragrafen 86 und 86a. Sie verbieten Propaganda von verfassungswidrigen Parteien und Organisationen oder aber die Verwendung von deren Kennzeichen.
Wobei es eine merkwürdige Ungleichbehandlung ist, dass der „Deutsche Gruß“ (Kennzeichen der NSDAP) strafbar ist, aber das Heben des rechten Arms mit geballter Faust („Heil Moskau“, Gruß der verbotenen KPD) nicht verfolgt wird.
Und für juristische Laien noch bizarrer ist die Sache mit dem blauen FDJ-Hemd. Die FDJ („Freie Deutsche Jugend“) war die Jugendorganisation der SED und war in der Alt-BRD verboten. Das Tragen dieses blauen Uniformhemdes ist in den Alt-BRD-Ländern einschließlich West-Berlin daher verboten; in den Ländern der ehemaligen DDR (einschließlich Ost-Berlin) ist es aufgrund des Einigungsvertrages aber erlaubt…
Viel bemerkenswerter als die Paragrafen 86 und 86a ist der § 130 StGB, Volksverhetzung. Ursprünglich kam die Vorschrift „von rechts“ und wandte sich „gegen links“. Im Kaiserreich war § 130 ab 1871 als „Klassenkampfparagraf“ bekannt und verbot, „Klassen der Bevölkerung zu Gewalttätigkeiten gegen einander öffentlich anzureizen“. Das war so eine Art Vorläufer des sieben Jahre später in Kraft getretenen und bis 1890 gültigen „Gesetzes gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“, besser bekannt als „Sozialistengesetz“.
Die monarchistisch-bürgerliche Mehrheitsgesellschaft sollte damit gegen sozialdemokratische Propaganda geschützt werden, die – damals bisweilen durchaus zu Recht – als Vorstufe für gewaltsame Anarchie oder kommunistische Umstürze galt.
Nach dem Krieg war es nicht mehr nötig, zu „Gewalttätigkeiten“ anzureizen; es wurde der wesentlich vagere Begriff der „Hetze“ eingeführt. Ursprünglicher Auslöser war, dass Weihnachten 1959 die gerade kurz vorher eingeweihte Kölner Synagoge mit antisemitischen Parolen beschmiert wurde. Eigentlich sollte „Aufstachelung zum Rassenhass“ gesetzlich sanktioniert werden.
Die damaligen Oppositionsparteien SPD und FDP lehnten dies jedoch als „Sondergesetz“ ab. Der SPD-Politiker Adolf Arndt sprach sogar von einem „Judenstern“-Gesetz, das die jüdische Minderheit rechtlich als privilegiert brandmarken würde. Eine solche Äußerung würde heutzutage wohl auch schon als „volksverhetzend“ strafbar bewertet werden. Man einigte sich daher darauf, den „Angriff auf die Menschenwürde von Minderheiten“ unter Strafe zu stellen. Interessanterweise übrigens nur von Minderheiten; die Mehrheit wird nicht vor Herabwürdigung geschützt.
Das führt zu der bizarren und fragwürdigen Situation, dass ein Deutscher, der einen Türken als „Scheiß-Türken“ bezeichnet, Volksverhetzung begeht, wohingegen ein Türke, der einen Deutschen als „Scheiß-Deutschen“ bezeichnet, „nur“ Beleidigung begeht. Zwar auch strafbar, aber mit einem wesentlich geringeren Strafrahmen ausgestattet. Wie das nun noch mit dem Gleichbehandlungsgrundsatz aus Artikel 3 Grundgesetz vereinbar ist, ist wohl allenfalls auf einem sehr abstrakten akademischen Niveau erklärlich. Dem gesunden Menschenverstand verschließt sich das!
Allerdings erlebte das ursprüngliche Gesetz auch eine ganze Reihe von Verschärfungen. Im Jahre 1992 stand der damalige NPD-Vorsitzende Günter Deckert vor Gericht, weil er den Holocaust bestritten hatte. Nach der damaligen Gesetzesfassung war dies aber nur strafbar, wenn es aus antisemitischen Gründen geschah; und weil Deckert diese nicht nachgewiesen werden konnten, wurde das Urteil im März 1994 vom Bundesgerichtshof aufgehoben. Linke wie jüdische Kreise liefen natürlich Sturm, und schon bald gab es eine Verschärfung: Danach war nicht mehr bedeutsam, warum jemand den Holocaust bestritt, es reichte, dass er es tat. Die Änderung trat zum 1. Dezember 1994 in Kraft.
Bald darauf arbeitete sich die Justiz neuerlich an Günter Deckert ab, dem früheren Olympioniken (Rom 1960) und aktuellen Ehrenbürger der US-Stadt Michigan City. Deckert war – bevor er wegen seiner NPD-Mitgliedschaft Berufsverbot bekam – Gymnasiallehrer unter anderem für Englisch gewesen; er beherrschte diese Sprache daher in Übersetzerqualität. Bei einer Veranstaltung übersetzte er eine Rede des US-amerikanischen Ingenieurs Fred A. Leuchter, der Massentötungen in KZ-Gaskammern für technisch nicht möglich hielt.
Deckert ergänzte Leuchters Ausführungen durch eigene kurze Kommentare. Da ein Video der Veranstaltung der Staatsanwaltschaft in die Hände fiel, kam es zu einer Anklage und anschließender Verurteilung.
Das Urteil machte vor allem Furore, weil Deckert im ersten Anlauf zwar zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt wurde, aufgrund einer guten Sozialprognose und des Eindrucks zumindest subjektiver Ehrlichkeit, die das Gericht von ihm gewann, die Strafe aber zur Bewährung ausgesetzt wurde.
Es fanden sich Gründe oder Vorwände zur Revision, und im dritten Durchgang erfolgte dann das politisch erwünschte Urteil: zwei Jahre, aber diesmal ohne Bewährung, so dass Günter Deckert zusammen mit weiteren Urteilen fast 60 Monate in der JVA Bruchsal bei Karlsruhe verbringen durfte.
Aber auch damit hatte es noch kein Ende. Nach dem Tod von Rudolf Heß im Jahre 1987, etablierten sich zu seinem Todestag „Heß-Märsche“ zur Erinnerung an den ehemaligen Reichsminister. Diese erhielten einen stets wachsenden Zulauf.
Deshalb wurden radikal rechten Demonstrationen – ohne Gesetzesänderung, durch Rechtsanwendung, sogenanntes „Richterrecht“ – immer mehr Steine in den Weg gelegt, bis das Bundesverfassungsgericht dem im Jahre 2000 einen Riegel vorschob.
Schon im nächsten Jahr begannen die Heß-Märsche wieder, diesmal maßgeblich getragen von dem Hamburger Rechtsanwalt Jürgen Rieger. Als die Teilnehmerzahl sich dem fünfstelligen Bereich näherte, zogen Regierung und Parlament die Notbremse, und zwar auf dem Umweg über eine neue Verschärfung des § 130 StGB. Es wurde ein Absatz 4 eingefügt, der erkennbar nicht dem Zweck der Strafverfolgung Einzelner diente, sondern Demonstrationen dieser Art verhindern sollte.
Folgerichtig fand die parlamentarische Beratung darüber auch nicht im Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages statt, sondern im Innenausschuss. Unter Juristen wurde die neue Bestimmung wahlweise als „Lex Wunsiedel“ (der Beisetzungsort von Rudolf Heß war bevorzugtes Ziel der Demonstranten) oder auch als „Lex Rieger“ bezeichnet; letzteres nach dem Rechtsanwalt, der als Anmelder und Leiter der Versammlungen auftrat.
Rieger, ein gerade in Verwaltungs- und Versammlungsrecht überaus kompetenter Anwalt, klagte gegen die auf dieses Strafgesetz gestützten Versammlungsverbote. Die Sache ging bis zum Bundesverfassungsgericht.
Das Höchstgericht kam zu dem Ergebnis, dass es sich dabei tatsächlich um ein eigentlich nach der Rechtsordnung verbotenes „Sondergesetz“ handele, aber dass das wegen der politischen Bedeutung und der besonderen Verantwortung für den Massenmord an den europäischen Juden ausnahmsweise zulässig sei. Auch das war wieder eine Entscheidung, die man höchstens auf einem nicht nur abstrakten, sondern geradezu bizarren akademischen Niveau erklären kann, nicht aber mit dem normalen Menschenverstand.
Aber auch diese letztlich im Jahre 2009 vom Bundesverfassungsgericht bestätigte Verschärfung reichte der immer weiter nach links driftenden Politik der BRD nicht aus. Leise und heimlich wurde dann auch noch der „traditionelle“ Absatz 1 des § 130 geändert. Volksverhetzung ist jetzt nicht nur, wenn man gegen einen „Teil der Bevölkerung“, also eine Minderheit, zum Hass aufstachelt oder zu Gewalt- oder Willkürmaßnahmen aufruft, sondern selbst dann, wenn man auch gegen einen Einzelnen wegen dessen nationaler, rassischer, religiöser oder seiner ethnischen Herkunft hetzt.
Deutlicher kann man eine Sondergesetzgebung nicht mehr zum Ausdruck bringen! Nicht umsonst wird der Volksverhetzungsparagraf unter politisch bewussten Menschen gern auch als Maulkorbparagraf bezeichnet.
Noch deutlicher wird dies natürlich durch den neuen Medienstaatsvertrag, den die Bundesländer mit Gesetzeskraft ausgestattet haben. Die Machthaber haben festgestellt, dass das Internet ein ähnlich schwer kontrollierbarer Bereich ist wie Stammtischgespräche. Während an Stammtischgesprächen aber allenfalls ein Dutzend Leute teilnehmen – und sie zu Corona-Zeiten sowieso nicht stattfinden können – haben Eintragungen im Netz immerhin das Potenzial, nahezu unbeschränkt viele Menschen zu erreichen.
Es gab früher einen „Flüsterwitz“. Er lautete: „Man lässt sich die Zähne jetzt durch die Nase ziehen. Warum? Weil keiner mehr wagt, den Mund aufzumachen!“
Ich werde gelegentlich meine Zahnärztin fragen, ob ihr das möglich ist. Hat sogar den Vorteil, dass ich währenddessen dann eine Maske wenigstens über dem Mund tragen kann, so dass es Corona-konform nicht möglich ist, sie anzustecken, wenn ich nur durch den Mund atme, während sie mir die Zähne durch die Nase behandelt … – Aber vielleicht lasse ich diese ein wenig übertriebene Vorsicht auch. Vielleicht erinnere ich mich daran, was schon vor vielen Jahrzehnten gern gesagt wurde: „Die Zähne zeigt nur, wer‘s Maul aufmacht!“
Vielleicht sollten wir alle uns angewöhnen, gegen Sondergesetze und Sonderrechte mehr das Maul aufzumachen, die Zähne zu zeigen. Auch wenn es wehtut – spätere Generationen werden es uns danken. Weil sie sich dann nicht fragen müssen: Wie konnte es eigentlich so weit kommen?
Erstveröffentlichung in N.S. Heute #25
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Der „ehemalige Olympionik“ ist aber nur ein Namensvetter, wenn ich das richtig sehe…