Mit der Fortsetzung des Artikels aus der Ausgabe #30 will ich Euch anhand des Werkes Arnold Gehlens über Hypermoral die Hintergründe heutiger Moralvorstellungen verdeutlichen – insbesondere wollen wir zeigen, woher dieser allesbeherrschende linke Moralismus kommt und wie er Einzug halten konnte in die Köpfe vieler Menschen. Im ersten Teil des Artikels haben wir anhand Nietzsches „Genealogie der Moral“ den Wandel der Moral im Laufe der Geschichte nachgezeichnet. Eine Lektüre des ersten Teiles ist aber zum Verständnis dieses zweiten Teiles nicht notwendig, wir steigen direkt in Arnold Gehlens Werk ein.
Arnold Gehlen (1904-1976) war ein deutscher Philosoph, Anthropologe und Soziologe. 1933 trat Gehlen der NSDAP bei, in den folgenden Jahren war er Professor in Leipzig, an der Albertus-Universität in Königsberg und in Wien. Gegen Kriegsende wurde er einberufen und als Leutnant schwer verwundet. In der Nachkriegszeit verhinderten Marxisten an den Universitäten seine erneute Berufung, zuletzt war er aber Professor für Soziologie an der RWTH Aachen. In den 1960er- und 1970er-Jahren galt er als konservativer Gegenspieler der marxistischen Frankfurter Schule und der Kritischen Theorie Horkheimers und Adornos und machte sich einen Namen als unzeitgemäßer konservativer Kritiker der deutschen Nachkriegsgesellschaft. – Übrigens, sein Cousin war Generalmajor Reinhard Gehlen, leitender General der Abteilung Fremde Heere Ost der Wehrmacht, nach 1945 Leiter der „Organisation Gehlen“ und späterer erster Präsident des Bundesnachrichtendienstes.
Was bedeutet Hypermoral?
Moral – wertfrei betrachtet – ist nur eine Ansammlung von Geboten, Vorstellungen und Verhaltensregeln, die in einem wie auch immer gearteten Zusammenleben gelten. Hypermoral hingegen ist übermäßige, überzogene und überdehnte Moral. Diese Hypermoral wird als Totschlag-Argument gebraucht, um die Gegner argumentativ mundtot zu machen. Das funktioniert recht einfach, weil bei der Zuhörerschaft oder in den Medien der moralische Argumente Gebrauchende immer als der Gute wahrgenommen wird, der mit realistischen Gründen dagegen Argumentierende wird immer als der unmoralisch Kalte empfunden.
Ein Beispiel: „Beobachten Sie die typische Situation in einer abendlichen Polit-Talkshow. Derjenige Redner, der seine Position möglichst moralisch darstellt, der auf irgendwelche Ungerechtigkeiten hinweist, ist immer rhetorisch in der Vorhand. Und derjenige, der dann dagegenreden will, vielleicht mit sachlichen, mit nüchternen Argumenten, der wirkt fast automatisch unsympathisch. Das ist also der, der das kalte Herz hat, der nur analytisch an die Sache rangeht. Also, mit Moral zu operieren, bringt eben einen enormen rhetorischen Vorteil. Das bringt häufig Sympathien. Man wirkt eben menschlich. Man wirkt empathisch. Und demgegenüber tritt dann das Sachargument zurück.“ (Alexander Grau im Deutschlandfunk, 30.11.2017)
Obwohl Gehlens Werk „Moral und Hypermoral“ aus dem Jahr 1969 stammt, hat der Begriff Hypermoral gerade in jüngster Zeit an Bedeutung gewonnen, weil gerade in Zeiten der Masseneinwanderung und vollkommen verfehlter Energiepolitik hypermoralische Argumente gehäuft verwendet werden, um die verfehlte oder auch absichtlich so gestaltete Politik in einem guten Licht erscheinen zu lassen – so werden wir überschüttet von hypermoralischen Scheinargumenten wie „Wir müssen alle Bootsreisenden aufnehmen, weil wir sonst schuld daran sind, dass sie ertrinken“ oder „Wir wollen gerne frieren für die demokratische Ukraine“ oder ganz einfach „Atomkraft ist böse und gefährlich!“
So ist es kein Wunder, dass Gehlens Begriff der Hypermoral von verschiedensten Kritikern der aktuellen Politik aufgegriffen wird. Einer der eifrigsten Wiederentdecker des Begriffs ist der oben zitierte Philosoph und Autor Alexander Grau, der die nach wie vor aktuellen Ausführungen Gehlens noch treffender auf die heutige Zeit bezieht. Und wie reagieren die heutigen Massenmedien auf die Kritiker der Hypermoral? Natürlich ganz moralisch, sie verorten den Begriff im Wortschatz der bösen Neuen Rechten, wie auch sonst?
Wie entstand die Hypermoral?
Es stellt sich nun die Frage, wie es dazu kommen konnte, dass die Hypermoral zur letzten Religion unserer Zeit, zur dominierenden Leitideologie werden konnte, wie Grau schreibt.
Gehlen sieht die Entstehung der Hypermoral in Europa im Zusammentreffen des Niedergangs der christlichen Religion mit dem entstehenden Massenwohlstand, die zusammen zum grenzenlosen Humanitarismus führten, der die Hypermoral auf allen Ebenen verursacht.
Nun aber der Reihe nach:
Niedergang der Religion
Die alte orientalische Religion mit ihren jahrtausendealten Erzählungen, die das Christentum nun einmal ist, verlor in der neuen Zeit der Bildung und wissenschaftlicher Erkenntnisse zu Natur und Welt langsam das Interesse der Gläubigen. Diese Entwicklung beschleunigten aber auch die Kirchen selbst, indem sie ihre Kernaufgaben vernachlässigten, die Gläubigen im Sinne der Bibel anzuleiten und die sperrigen alten religiösen Formeln mit aktuellem und heute nachvollziehbarem Sinngehalt zu füllen. Gehlen schreibt, „der unsterbliche Gott wohnt heute in einem anderen Winkel des Universums“.
Stattdessen fing insbesondere die evangelische Kirche schon vor Jahrzehnten an zu politisieren, und – ohne den Kern und Sinn des Glaubens – oberflächlich zu moralisieren. „Der vor irgendeinem Endlager angekettete Pfarrer gehört ja quasi zur protestantischen Folklore noch aus den 80er-Jahren“, sagt Grau – hauptsächlich um den Massenmedien und den verlorenen Schäfchen zu gefallen, deswegen werden die Kirchen zu Moralagenturen und zum verlängerten Arm der dominierenden Leitideologie. So kommt es auch, dass die Liebe in den Kirchen nicht mehr dem Nächsten gilt, sondern vorzugsweise den Fernsten in aller Welt.
Vom Massenwohlstand zur Hypermoral
In der Spätzeit des industriellen Zeitalters kam es durch die immer besseren technischen Produktionsmöglichkeiten zu Massenwohlstand und Verbürgerlichung der Arbeiter statt des vorher vorhandenen Massenproletariats. Technik und Handel überwanden alle staatlichen und ethnischen Grenzen, sodass bis heute ein weltweiter Materialismus ohne Halt in Glaube, Sitte und Heimat herrscht. Gehlen schreibt dazu: „Da die Menschheit nichts Größeres mehr außer sich sieht, muss sie sich selbst umarmen und ihr immer schon wahnhaftes Glücksverlangen von sich selber erwarten.“
Damit ist gemeint, dass der Einzelne in der Masse der Jäger nach Reichtum und Konsum sich allzu leicht einreden lässt, dass nach dem Verschwinden Gottes und anderer Instanzen nur er selbst verantwortlich sei für das Schicksal und das Wohlergehen der gesamten Menschheit und der Welt – der Humanitarismus ist geboren. Von hier aus ist der Weg nicht mehr weit, den Menschen einzureden, wie schwer die Bürde der Probleme der ganzen Menschheit und der Welt auf ihren Schultern laste und dass sie damit schwere moralische Verpflichtungen trage – die Hypermoral hat die Bürger im Griff.
Wer sind die Urheber, die Antreiber der Hypermoral?
Gehlen überlegte zur Beantwortung dieser Frage einfach, welche Kreise ein Interesse haben und darüber hinaus in der Lage sind, die Hypermoral voller Begeisterung und mit Ausschließlichkeit zu vertreten und aggressiv zu bewerben. Er stellte ausdrücklich fest, dass es nicht mehr, wie in Nietzsches „Genealogie der Moral“ in früheren Jahrhunderten, die Benachteiligten und Abgehängten sind, die mit Mitleid und Schuldzuweisungen an die bösen Oberen Stimmung machten, nein, diesmal sind es privilegierte Klassen, die faktisch und auch rechtlich von den moralischen Widersprüchen und Schwierigkeiten der alltäglichen Kämpfe in der Wirtschaft und Verwaltung freigestellt sind.
Es sind gleichzeitig privilegierte Klassen, die keine Konsequenzen ihrer hypermoralischen Beeinflussungen zu befürchten haben, die keine Verantwortung für ihre Handlungen tragen müssen. Gehlen schreibt: „Das sind, um es kurz zu sagen, in großen und wortführenden Teilen die Schriftsteller und Redakteure, die Theologen, Philosophen und Soziologen, also ideologisierende Gruppen, erhebliche Teile der Lehrerschaft aller Schularten und der Studenten, und schließlich die generellen Nutznießer der gesellschaftlichen Nachsicht: Künstler und Literaten. Mit einem Wort, es handelt sich um die ‚Intellektuellen‘, und hier insbesondere um die Kernbestände derer, die nicht in der Wirtschafts- und Verwaltungspraxis tätig sind.“ Jeder Arbeiter oder Angestellte wird von seinem Vorgesetzten zur Verantwortung gezogen, wenn er falsch handelt, jeder Beamte muss dienstrechtliche Konsequenzen fürchten, wenn er Gesetze und Verordnungen falsch auslegt – die beschriebenen privilegierten Klassen der Intellektuellen ohne Verantwortung können nach Belieben handeln, ohne Konsequenzen.
Eine besonders zu betrachtende Gruppe der Urheber und Antreiber der Hypermoral sind Journalisten in den Massenmedien. Nicht nur, dass sie keinerlei Verantwortung für das Geschriebene oder Gesprochene zu tragen haben, sie werden sogar ausdrücklich privilegiert vom Artikel 5 des Grundgesetzes. Diesen Artikel verstehen viele von ihnen nicht als Pressefreiheit, sondern als Freifahrtschein in die Verantwortungsfreiheit und können „sich mit vollem Herzen der Moral der Anderen annehmen“, wie Gehlen schreibt, denn Kritik und Angriff sind die einzigen Mittel dieser Intellektuellen, ihre einzige mit Wirkung ausgestattete Aktionsform.
Besonders unaufrichtig ist ihre Selbsternennung als sogenannte informelle „Vierte Gewalt“, denn niemand hat sie dazu auserwählt. Wir haben ja bereits in der letzten Ausgabe im Artikel von Christian Worch gesehen, wie die enge Verquickung der drei Gewalten (1. die legislative, gesetzgebende, also das Parlament; 2. die exekutive, vollziehende, also die Regierung und Verwaltung; und 3. die judikative, rechtsprechende, also die Gerichte) erheblich zur Erosion des Rechtsstaates beiträgt. Nun wissen wir auch, was von der selbsternannten „Vierten Gewalt“ der Medien zu halten ist.
Privatisierung der Interessen
Einen besonderen Effekt hat Gehlen bei seinen Untersuchungen zur Hypermoral beobachtet, der kennzeichnend für die heutige Zeit ist: den Rückzug der Bürger ins Private. Es hat Gründe, warum sich der Bürger ins Private abdrängen lassen muss: Es liegt an der Komplexität der heutigen Welt, von deren vielfältigen Ereignismassen er nur einen Ausschnitt überblicken kann. Dazu kommt, dass er bei der Auswahl und Beurteilung der Ereignisse auf diese oben beschriebenen Journalisten der Massenmedien mit ihren eigenen Zielen der Beeinflussung angewiesen ist, „er befindet sich sozusagen chronisch auf der Talsohle der Wirklichkeit“ ohne Ausblick und Übersicht, wie Gehlen schreibt, sodass auch unbedarfte Bürger merken, dass sie nicht richtig informiert werden – in diesem Zusammenhang fällt inzwischen oft das Wort „Lügenpresse“.
Da ist es kein Wunder, dass der einfache Bürger sich auf seine selbsterlebte Umgebung im privaten, beruflichen und familiären Umfeld konzentriert, weil er nur dort verlässliche Beobachtungen aus erster Hand und eigene Urteilsmöglichkeiten hat. Er erfährt auch nur dort soziale Bindungen und persönliche Anerkennung für seine Handlungen und Leistungen, sodass er sich für die große weite politische Welt nicht mehr interessiert. Der Bürger im spätindustriellen Zeitalter wird apolitisch und „politische Ereignisse finden erst dann zur wahren Popularität, wenn sie sich in Privatangelegenheiten umdenken lassen“, so Gehlen.
Und so schließt sich der Kreis: Die Herrschenden wissen genau, dass sie nur mit Gefühlen und Hypermoral die Massen beeinflussen können, um ihre politischen Ziele zu erreichen.
Strategie gegen Hypermoral
Wir haben gesehen, dass realistische, kühle Argumente gegen hypermoralische Beeinflussung wenig helfen. Das einzige Mittel ist hier die Provokation. Mit Verstößen und Provokationen gegen die neue Religion und Leitideologie Hypermoral lässt sich etwas bewegen. Dazu muss man sich bewusstwerden, dass die staatstragenden hypermoralischen Gebote keine in Stein gemeißelten Gesetze und meist nicht strafbewehrt sind, sodass man ruhig an die Grenzen der Straffreiheit gehen kann, wenn man vorübergehende Nachteile in Kauf nehmen will – aber das ist nun mal immer so mit Provokationen, wenn der böse Bube etwas bewegen will, muss er sich auch zeigen.
Mit geeigneten Provokationen erreicht man hoffentlich eine sehr große Menge an Leuten, die dadurch zum Nachdenken und Hinterfragen angeregt werden. Viele Provokationen von nicht moralisch und unkonventionell Handelnden setzen Moralverschiebungen in Gang, und wenn sich erstmal nur unsichtbar in den Köpfen etwas bewegt.
Es bleibt nur noch die Frage, wie sinnvolle Provokationskonzepte erarbeitet werden. Kurzgefasst sehen die Grundlagen dazu ähnlich wie in der Werbung, Kunst und bei den Stars und Sternchen aus:
- Eine Definition der Provokation ist ein „absichtlich herbeigeführter überraschender Normbruch, der den anderen in einen offenen Konflikt hineinziehen und zu einer Reaktion veranlassen soll, die ihn, zumal in den Augen Dritter, moralisch diskreditiert und entlarvt“ (Rainer Paris, Soziologe).
- Satire, Kunst, Witz und Ironie sind bestens geeignet, um Provokationen zu veredeln.
- Negativschlagzeilen sind auch Schlagzeilen.
- Provokationen können auch ein Ausdruck der Stärke sein: „Schaut her, wir können das, wir erheben uns über die herrschende Hypermoral“.
- Kurze und provokante Sätze sind besser als lange differenzierende Erklärungen.
- Nicht mit der Opferrolle provozieren, das ist nicht unser Stil.
Zuletzt bleibt zu sagen, dass die Provokationen gegen die Hypermoral nicht allein in den Raum gestellt bleiben sollen. Die erreichte Aufmerksamkeit muss genutzt werden, um den Empfänger auf seine eigenen Interessen, die Interessen seiner Familie und seines Volkes aufmerksam zu machen: Wir wollen nicht die Welt retten, sondern uns selbst vor dem staatlich und medial verordneten Wahnsinn.
Literatur:
Arnold Gehlen – Moral und Hypermoral. Eine pluralistische Ethik. Hrsg. Karl-Siegbert Rehberg, Frankfurt am Main 2004 (6. erweiterte Auflage)
Ein Kapitel dieses philosophischen Werkes ist Grundlage des vorliegenden Artikels, aber das Buch ist für Laien schwer verständlich und weit ausholend.
Alexander Grau – Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung. Claudius Verlag, München 2017
Das Buch bezieht die nach wie vor aktuellen Ausführungen Gehlens verständlich und noch treffender auf die heutige Zeit.
Erstveröffentlichung in N.S. Heute #32
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