„Hört her! Mich kotzt das an!“ – Louis-Ferdinand Céline zum 130. Geburtstag

Louis-Ferdinand Céline hat es seinen Freunden wie Feinden nie leichtgemacht. Als er seine schriftstellerische Karriere 1932 mit der Reise ans Ende der Nacht begann, konnte man ihn noch als nächsten großen linken Schriftsteller werten: Sein Werk ist eine beißende Kritik, Demaskierung und Verächtlichmachung des Kolonialismus, Patriotismus, Militarismus und der bürgerlichen Werte im Allgemeinen. Die Sprache ist grob unflätig, voller Flüche und Beleidigungen. Die Sätze fetzenhaft, abgehackt, teilweise wirr und zwischen der Handlung, politischen und gesellschaftlichen Betrachtungen und Schimpfkaskaden hin- und herspringend. Heutzutage ist man zwar Gröberes gewohnt, doch in den 30ern schlug Célines Erstling wie eine Bombe ein. Das Bürgertum war empört, links- und rechtsaußen begeistert – es sollte nicht der letzte Skandal bleiben.

Chronist der menschlichen Abgründe

Die Werke des am 27. Mai 1894 nordwestlich von Paris geborenen Louis-Ferdinand Céline sind ohne sein bewegtes Leben nicht zu denken. Viele der teilweise drastisch überzeichneten Stellen fußen auf seinen Erfahrungen mit den dreckigen Niederungen der Menschen. Im Ersten Weltkrieg wurde er früh schwer verwundet und für seine Tapferkeit ausgezeichnet, später reiste er unter anderem im Auftrag des Völkerbundes als Seuchenarzt durch die USA, Afrika und das besetzte Rheinland, wo er unterschiedliche Formen des Elends hautnah miterlebte, bevor er sich schließlich als Armenarzt in Frankreich niederließ. Sein Leben war gefüllt mit dem Kontakt zu Säufern, Huren, Schlägern, Drogensüchtigen, körperlich und geistig Kranken, Fanatikern und Defätisten.

Célines Leben und Werk ist durchzogen von den Abgründen der Menschen und der Gesellschaft, dennoch zeigt er hin und wieder das Gute und Schöne, dass sich in der Zwischenkriegszeit von all dem Unrat erhebt. So zum Beispiel in der Reise ans Ende der Nacht, als er erfährt, dass der von ihm verachtete, fette, schwitzige Kolonialbeamte seinen Dienst lediglich deshalb leistet (und wahrscheinlich an einer der zahlreichen Tropenkrankheiten krepieren wird), um mit dem Sold die Schulgebühren seiner halbwaisen Tochter zu bezahlen, damit sie einmal einen besseren Beruf und ein besseres Leben haben wird.

Im Militär lernte Céline den Militarismus zu verachten, in den französischen Kolonien wuchs seine Ablehnung gegenüber dem Kolonialismus, und der normale (Klein)bürger ließ ihn auf beinahe alle Werte kotzen. Dennoch sah sich Céline nie als Paradebeispiel für einen guten Menschen. Um an die Wende zum Guten zu glauben, war er zu pessimistisch und zynisch, aber genau deshalb ist seine Bestandsaufnahme auch so grandios und lässt sich in gewissem Maße auch auf andere Gesellschaften damals wie heute übertragen.

Weltkrieg und Kollaboration

Bis heute wird Céline sein wahnhafter „Antisemitismus“ vorgeworfen. Dieser war selbst für damalige Judengegner so übersteigert, dass man sich bis heute nicht sicher ist, ob er lediglich als „Kunstprojekt“, gelebte Satire oder als tatsächlich Psychose zu werten ist. Das bekannteste Beispiel hierfür lieferte Ernst Jünger in seinem Tagebuch Strahlungen, als er von einem Treffen mit Céline berichtete, in dem dieser sich erbost zeigte, dass die Deutschen nicht sofort alle Juden erschießen würden. Er schlug vor, dass man an jeder Straßenkreuzung Soldaten postierten solle, die alle Zivilisten nach Juden und Verrätern kontrollieren müssten, um diese noch an Ort und Stelle zu erschießen. Trotz dieser Ansichten hielt sich Céline politisch ansonsten relativ bedeckt. Selbst während der deutschen Besetzung Frankreichs beschränkte sich seine Kollaboration auf einige Artikel, die meisten davon satirischer Art.

1944 erreichte er, wie viele andere französische Kollaborateure, die Stadt Sigmaringen im heutigen Baden-Württemberg. Seine Erlebnisse schilderte er im fiebrig-apokalyptischen Roman Von einem Schloss zum anderen. Zwar überzeichnete Céline die Ereignisse und Personen, aber dessen ungeachtet bietet der Roman einen drastischen Einblick in das Ende von Vichy – und wer ähnliche Darstellungen über den Zusammenbruch der Ordnung kennt, wird sich fragen, wo diese Überzeichnung nun stattfand. Der Roman bildete zugleich den Auftakt der Trilogie zum Kriegsende. In Norden und Rigodon beschrieb Céline seine Flucht quer durch Deutschland und seine Zeit in dänischer Inhaftierung, die gleichzeitig ein Exil war. Wie viele andere Kollaborateure, wurde auch Céline zum Tode verurteilt, jedoch 1950 begnadigt und kehrte anschließend nach Frankreich zurück, wo er in der Nähe von Paris bis zu seinem Tod 1961 weiterhin als Autor und Armenarzt arbeitete.

Literarische Wiederentdeckung

Ironie des Schicksals: Kurz nach Erscheinen der Reise ans Ende der Nacht wurde das Buch vom jüdischen Journalisten Isak Grünberg ins Deutsche übersetzt. 1933 wollte der Piper-Verlag jedoch nicht die Herausgabe eines Buches von einem so skandalträchtigen Franzosen, noch dazu mit einem jüdischen Übersetzer, wagen und verkaufte die Rechte an den Julius Kittels Nachfolger-Verlag, der die Übersetzung so stark abschwächte und somit verfälschte, dass die deutsche Übersetzung als unbrauchbar galt. Dennoch erlebte der Roman mehrere Auflagen und wurde erst 2003 im Rowohlt-Verlag authentisch neu übersetzt.

Trotz seiner vulgären Kritik bis hin zum Wahn, genießt Célines Werk in Frankreich noch immer ein hohes Ansehen. Seine Werke werden weiterhin aufgelegt und selbst die politischen Pamphlete wurden als kommentierte Ausgaben in die Herausgabe seiner gesammelten Werke übernommen. So überrascht es auch nicht, dass an der Herausgabe bisher unveröffentlichter Werke gearbeitet wird. 2021 fand man mehrere tausend Seiten von Manuskripten, die die Résistance kurz vor Kriegsende aus Célines Wohnung gestohlen hatte, darunter der bis dahin nur als Fragment bekannte Roman Kanonenfutter (eine absurd-komische Verächtlichmachung der französischen Armee voller Beleidigungen, Besäufnissen und Fürzen). Aus diesem Fundus erschien 2023 im Rowohlt-Verlag Célines Roman über das erste große Völkerringen mit dem schlichten Titel Krieg.

Dem amerikanischen Publikum wurde Céline durch Charles Bukowski [ein Porträt zu diesem weiteren Underdog findet sich in der N.S. Heute-Ausgabe #40 – Anm. d. Red.] ein Begriff, der die Reise als größten zeitgenössischen Roman wertete, sowie durch die Rockband The Doors, die dem Roman mit End of the night ein Lied widmeten.

Leider bleibt Céline heute primär auf seinen Debütroman und seinen psychotischen „Antisemitismus“ beschränkt. Der ambivalente Mensch und sein großartiges literarisches Werk treten dabei zumeist in den Hintergrund. Man kann nur hoffen, dass die wenigen und stellenweise schwer erhältlichen deutschen Übersetzungen um neue Auflagen zunehmen und Céline auch in Deutschland endlich die Aufmerksamkeit zuteilwird, die dieser große wie streitbare Autor verdient.

Erstveröffentlichung in N.S. Heute #41

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1 Gedanke zu „„Hört her! Mich kotzt das an!“ – Louis-Ferdinand Céline zum 130. Geburtstag“

  1. Der Name des Schriftstellers Céline ist mir als altem Bukowski-Verehrer schon öfters „über den Weg gelaufen“, habe ihm aber keine weitere Beachtung geschenkt. In der Beschreibung von Johann Kraft wurde nun etwas in mir wach gekitzelt, das ich seit Bukowski, dessen Werke ich schon mehrfach verschlungen habe, verschollen glaubte. Es ist das Interesse an vulgären und drastischen Schriftwerken. Bei mir hat sich seit längerer Zeit die Ansicht verfestigt, daß Romane, Kurzgeschichten und anderes, zum Teil ausgedachtes Zeug, nur Zeitverschwendung seien und ich mich lieber mit der Aufarbeitung unserer wahren Geschichte befasse. Nun denke ich noch mal neu darüber nach. Ach Quatsch! Das ist schon längst passiert. Ich werde nun anfangen, Céline zu lesen.

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