Es geht hier nicht um einzelne Fehler und Verbrechen im Christentum, nicht um die unwiederbringliche Vernichtung antiker Schriften durch die katholische Kirche, nicht um die Folter und Hinrichtungen der Inquisition, nicht um die fehlende Unterstützung Konstantinopels durch die Katholiken, nicht um Fehlentscheidungen des Zweiten Vatikanischen Konzils. Andererseits geht es hier auch nicht um positive traditionsstiftende Effekte des Christentums im Abendland oder um die Klöster als wichtigste Kulturzentren des Mittelalters.
Es geht um die grundsätzliche Kritik am Christentum, um die Grundfehler im System des Christentums, die ich anhand der Sichtweise von Friedrich Nietzsche und Jürgen Rieger darstelle.
Christentum als Feind der Wissenschaft
Da Nietzsche selbst als Professor an der Universität Basel mit Studien der Antike beschäftigt war, traf ihn die Feindschaft der Kirche persönlich doppelt: sowohl mit der zeitgenössischen kirchlichen Ablehnung wissenschaftlicher Erkenntnisse als auch mit der kirchlichen Vernichtung klassischer antiker Schriften im Laufe der Geschichte.
Nietzsche beanstandet, dass das Christentum lauter falsche Behauptungen über Gott und die Welt aufgestellt hat und deswegen im Laufe der Geschichte naturwissenschaftliche Forschungen und Erkenntnisse bekämpft hat, da der unverstellte Blick auf die Realität die Irrlehren der Kirche widerlegt.
Beispielhaft für die antiwissenschaftliche Einstellung der jüdisch-christlichen Religion sei, dass sie das Streben nach Erkenntnis, durch den symbolischen Verzehr der Frucht vom Baum der Erkenntnis, mit der Vertreibung von Adam und Eva aus dem Paradies bestraft hat und die Vererbung dieser Schuld auf alle Menschen behauptet, die Erbsünde.
Unvergessen bleibt der sinnlose Kampf der Kirche gegen die Erkenntnis, dass alle Planeten sich um die Sonne drehen und die Erde nicht im Mittelpunkt des Weltalls steht.
Für die wissenschaftlichen Fortschritte der Medizin und für die Heilung von Krankheiten war die Ansicht des Christentums besonders hinderlich, dass Krankheiten durch Sünden verursacht seien und dass Obduktionen, als notwendiger Erkenntnisgewinn über Krankheiten, verboten waren.
Die kirchliche Feindschaft zur Wissenschaft belegt Jürgen Rieger mit einem Zitat des Kirchenvaters Origines: „Kein Gelehrter, kein Kluger, kein Weiser, unterstehe sich, zu uns zu kommen. Klugheit, Wissenschaft, Gelehrsamkeit heißen bei uns Übel! Aber wer einfältig, wer unwissend, wer ein Kind, wer ein Narr ist, der komme getrost zu uns!“
Erst Papst Benedikt XVI. beendete im 21. Jahrhundert die Feindschaft: Glaube und Wissenschaft seien miteinander vereinbar und doch keine Gegensätze.
Umwertung aller Werte
Nietzsches wichtigste Kritik am Christentum betrifft aber die christliche Moral, die ich bereits in der Ausgabe #42 im Artikel „Nietzsche – Umwertung aller Werte. Der Kern seiner Philosophie“ ausführlich beschrieben habe. Statt der vorherigen positiven Zuwendung zum Leben im Hier und Jetzt, wurden Schuld, Sünde und Jenseitsglaube in den Mittelpunkt gerückt.
Nietzsche behauptet im Jahr 1888 in der berüchtigten Radikalität seiner Sprache: „Das Christentum, aus jüdischer Wurzel und nur verständlich als Gewächs dieses Bodens, stellt die Gegenbewegung gegen jede Moral der Züchtung, der Rasse, des Privilegiums dar: – es ist die antiarische Religion par excellence: das Christentum die Umwertung aller arischen Werte, der Sieg der Tschandala-Werte, das Evangelium den Armen, den Niedrigen gepredigt, der Gesamt-Aufstand alles Niedergetretenen, Elenden, Missratenen, Schlechtweggekommenen gegen die ‚Rasse‘, – die unsterbliche Tschandala-Rache als Religion der Liebe …“ Zitat aus: Friedrich Nietzsche – Götzen-Dämmerung (Abschnitt: Die „Verbesserer“ der Menschheit). In: Giorgio Colli und Mazzino Montinari (Hrsg.): Friedrich Nietzsche – Sämtliche Werke (Kritische Studienausgabe). Verlag de Gruyter, Berlin 1999, Bd. 6, S. 101 f.
Jürgen Rieger schreibt: „Ich sehe nun das Hauptübel nicht in der christlichen Praxis, wie Kirchen mit Kirchensteuern, Priestern, Hexen- und Ketzerverfolgung, Kreuzzügen, sondern in der christlichen Moral. Das andere ist weitgehend Vergangenheit; es hat uns da entsetzlich geschadet – die christliche Moral aber bestimmt noch heute überragend unser Leben, die Massenmedien, die Politik. Ich werde nachweisen, dass diese Moral volksfeindlich, darüber hinaus lebensfeindlich insgesamt ist, sie das Römische Weltreich zugrunde gerichtet hat und dies auch bezweckte, dass sie zu Recht von Nietzsche als nihilistisch bezeichnet worden ist, weswegen er die erneute ,Umwertung aller Werte‘ forderte.“
Jürgen Rieger, bekannter führender nationaler Aktivist, bekennender Heide und erfolgreicher Strafverteidiger, hat seine grundsätzliche Kritik am Christentum in einem Vortrag über die christliche Moral weiter aufgefächert. Ich beschreibe hier einige wichtige Punkte:
Die Zehn Gebote
Das sechste der Zehn Gebote, die bis heute die grundsätzlichen Verhaltensregeln für Christen darstellen, lautet in der deutschen Übersetzung „Du sollst nicht töten“ statt „Du sollst nicht morden“ im hebräischen Original. Diese Luther-Übersetzung, die das Gebot vom Morden auf das Töten allgemein ausweitet, hat dazu geführt, dass verschiedene christliche Gruppen wie die Quäker oder Mennoniten jegliche Gewalt ablehnen, sich gegen Angriffe nicht wehren und auch den Kriegsdienst zur Verteidigung ablehnen.
Dieses Tötungsverbot in der Übersetzung hat selbstmörderische Züge. So ist bekannt, dass sich mennonitische Wolgadeutsche im Russischen Bürgerkrieg nicht gegen die herumziehenden kriminellen und bolschewistischen Banden gewehrt haben und niedergemetzelt wurden.
Das letzte der Zehn Gebote lautet „Lass dich nicht gelüsten deines Nächsten [Haus, Weib, Knecht, Magd usw.]“. Hier werden schon die bösen Gedanken, die Gelüste, verboten, obwohl erst Taten und nicht schon Gedanken sozialschädlich sind. Die sündigen Gelüste sollen Demut beim Menschen wegen seiner sündigen Natur bewirken und ihn abhängig machen von Priestern.
Aus der unterstellten sündigen Natur folgt die Verteufelung des Leibes, der Lust und der Freude am Leben. Diese Feindschaft zum Leib zerstört die Einheit von Leib und Seele, die für die menschliche Gesundheit von zentraler Bedeutung ist, und ist laut Rieger widernatürlich.
Endzeiterwartung statt Wille zur Lebensgestaltung auf Dauer
Jesus predigte, dass das Ende der Welt nahe sei und dann ein Gericht stattfinden werde, wo die Guten von den Bösen im vorherigen Leben getrennt würden und das Reich Gottes komme. Jesus‘ sittliche Forderungen zielen alle auf die Rechtfertigung vor dem göttlichen Gericht und das Leben nach dem Tod im Jenseits.
Jeder Sinn einer auf Dauer angelegten Lebensgestaltung geht dadurch verloren, sodass Familie, Kinder, Beruf und andere wichtige Dinge des Lebens zu Nebensächlichkeiten werden angesichts der erwarteten Endzeit.
Rieger zitiert hier Nietzsche zur Erläuterung: „Wenn man das Schwergewicht des Lebens nicht ins Leben, sondern ins ,Jenseits‘ verlegt – ins Nichts –, so hat man dem Leben überhaupt das Schwergewicht genommen. (…) So zu leben, dass es keinen Sinn mehr hat zu leben, das wird jetzt zum ,Sinn‘ des Lebens. (…) Wozu Gemeinsinn, wozu Dankbarkeit noch für Herkunft und Vorfahren, wozu mitarbeiten, zutrauen, irgendein Gesamtwohl fördern und im Auge haben?“
Nietzsche erklärt auch den Sinn und Zweck: „Um Nein sagen zu können zu allem, was die aufsteigende Bewegung des Lebens, die Wohlgeratenheit, die Macht, die Schönheit, die Selbstbejahung auf Erden darstellt, musste hier der Genie gewordene Instinkt des Ressentiments [auf einem Gefühl der Unterlegenheit, Neid oder Rache beruhende Abneigung] eine andre Welt erfinden, von wo aus jene Lebensbejahung als das Böse, als das Verwerfliche an sich erschien.“
Auch heute verbreitet die Verkündung von nahenden Klimakatastrophen, Reaktorunglücken und ähnlichen Untergangsszenarien Angst und Schrecken, und ändert das Verhalten der Menschen in die gewünschte Richtung. Riegers Ausführungen passen sehr gut in die heutige Zeit, wo zum Beispiel Paare auf Kinder verzichten, um den Klimawandel nicht zu beschleunigen.
Falsche Nächstenliebe
Jesus hat die Zehn Gebote zusammengefasst im höchsten Gebot „Du sollst Gott über alle Dinge lieben und deinen Nächsten wie dich selbst“ und hat ihm gleichzeitig eine entscheidende Neubestimmung verliehen, indem er die Nächsten- zur Feindesliebe erweiterte: „Ich aber sage euch: Liebet eure Feinde; segnet, die euch fluchen; tut wohl denen, die euch hassen.“
Die selbstmörderischen Auswirkungen dieser Wehrlosigkeit haben wir weiter oben schon am Beispiel der mennonitischen Wolgadeutschen gesehen. Rieger erwähnt aber auch die Mennoniten in den USA, die zuhauf von Indianern abgeschlachtet wurden.
Rieger schreibt, dass die Juden ursprünglich im Alten Testament die Nächstenliebe als Liebe zum eigenen Volk verstanden, die Christen aber, mit weltweitem Anspruch, setzten sie der Fernstenliebe gleich, also das Erweisen von Wohltaten unabhängig von Verwandtschaft oder Volk, das ist der entscheidende Punkt.
Deswegen werden inzwischen alle Missstände auf der ganzen Welt bekämpft, ohne Rücksicht auf eigene Interessen – ursprünglich nur von den Kirchen mit „Brot für die Welt“, Kirchenasyl und Ähnlichem, inzwischen auch von der herrschenden Politik mit ausufernder Entwicklungshilfe und der Einladung an alle, nach Deutschland zu kommen.
Diese Fortsetzung der christlichen Moral im linken und kommunistischen Denken ist immer wieder zu beobachten.
Rieger schreibt dazu: „Rudi Dutschkes Frau hat ihre Doktorarbeit über ,Kommunismus und Christentum‘ geschrieben – in der Tat, die geistige Verwandtschaft ist nicht zu leugnen.“ Und für Nietzsche ist der Marxismus die zu Ende gedachte Tyrannei der Geringsten, Elenden, Missratenen und vom Gefühl der Unterlegenheit, Neid oder Rache getriebenen, die ihren Ursprung im Christentum nahm.
Jesus lehrt Hass auf die eigene Familie
Rieger trägt vor, dass es besonders verwerflich ist, dass nach christlicher Auffassung weltweit der „Nächste“ geliebt werden soll, aber gerade die eigene Familie nicht, Originalton Jesus:
„Wer Vater oder Mutter mehr liebt als mich, ist meiner nicht würdig, und wer Sohn oder Tochter mehr liebt als mich, ist meiner nicht würdig.“ (Matthäus 10:37)
„Und jeder, der um meines Namens willen Häuser oder Brüder, Schwestern, Vater, Mutter, Kinder oder Äcker verlassen hat, wird dafür das Hundertfache erhalten und das ewige Leben gewinnen.“ (Matthäus 19:29)
Man soll nach der Auffassung von Jesus seine Angehörigen sogar hassen:
„Wenn jemand zu mir kommt und nicht Vater und Mutter, Frau und Kinder, Brüder und Schwestern, ja sogar sein Leben gering achtet, dann kann er nicht mein Jünger sein.“ (Lukas 14:26)
Realität und Ausblick
Wenn man nun entgegnet, dass die meisten Christen sich in Wirklichkeit nicht so verhalten wie in der dargestellten grundsätzlichen Kritik am Christentum von Nietzsche und Rieger, dann ist das ihr persönlicher Verdienst – die Leistung eines jeden Einzelnen, statt auf die christlichen Vorgaben von Jesus bis zu den heutigen Kirchen, doch mehr auf die eigene Vernunft zu hören und die Interessen des Eigenen, der Familie und der Gemeinschaft durchzusetzen.
Die abendländische Mystik bei Meister Eckhart und anderen zeigt alternative Wege des Glaubens: Da ist Gott nicht fern und unerreichbar, sondern Gott ist in uns allen, im Tiefsten unserer Seele. Er ist mehr als die Summe aller Naturgesetze, ist die Sehnsucht der Menschen nach mehr – eine Entwicklung zu Gott hin, ohne die Vermittlung der Kirche.
Erstveröffentlichung in N.S. Heute #43