Das „4. Reich“ – ein Schlagwort, das bereits während der Eurokrise und den unter anderem von Deutschland forcierten Sparmaßnahmen gegenüber Griechenland in aller Munde war. Die EU als getarntes Projekt der Deutschen, das Reich wiederaufleben zu lassen? Liberalkonservativen und Boomern in Deutschland kam diese Mentalgymnastik sehr gelegen, und so geistert das neue Reich schon als Schreckgespenst der Bierbäuche durch die Lande, bevor es überhaupt ausgerufen wurde. Dabei ist der Begriff schon älter und weist tatsächlich Ähnlichkeiten zum eingangs erwähnten „Reich“ auf.
1951 gründete der Schwede Per Engdahl die „Europäische Soziale Bewegung“ (ESB) mit Ablegern in mehreren europäischen Ländern. Das Gros der Mitglieder bestand aus Veteranen der Waffen-SS sowie Mitgliedern der ehemaligen nationalsozialistischen und faschistischen Jugendorganisationen. Bekannte Mitglieder der Bewegung waren Oswald Mosley (Großbritannien), Aktivisten der Falange (Spanien), Karl-Heinz Priester (Deutschland) und Wilhelm Landig (Deutsch-Österreich). In Anlehnung an einige Ausarbeitungen aus den letzten Kriegsjahren befürwortete man ein „europäisches Reich aus gleichberechtigten und unabhängigen Nationen“.
Spätestens Jean Thiriart prägte in den 60ern den Begriff vom „4. Reich“ für Europa. Er ging jedoch weiter als die ESB und träumte von einem Europa von „Lissabon bis Wladiwostok“. Ein Unterfangen, das sich mit der russischen Reichsidee, welche auch die asiatischen Völker miteinschließt, als ein Projekt auf tönernen Füßen erwiesen hätte. Angeblich soll unter anderem Thiriarts „rechtes Eurasien“ eine Inspirationsquelle für Alexander Dugin gewesen sein. Dieser drehte den Spieß bekanntlich um und sieht nicht Deutschland, sondern Russland als Führungsmacht und hat auch ansonsten eher linke Ansichten zum Thema „Rasse“ und „Gender“.
Und die ESB? Die Bewegung verlief nach wenigen Jahren im Sande. Mosley konnte mit der Partei „Union Movement“ nicht an die Vorkriegserfolge der „British Union of Fascists“ anknüpfen. Priesters Tod 1960 bedeutete de facto das Ende der Deutsch-Sozialen Bewegung, und Francisco Franco näherte sich in den 50ern den USA an. Lediglich in Frankreich und Italien blieb der Europagedanke bis heute gerade in den Jugendbewegungen über GRECE, Groupe Union Défense, Bastion Social, der alten MSI und Casa Pound sehr vital. In Deutschland vollführte die Rechte einen „Rollback“ zum Nationalstaat und gefiel sich zumeist in Auftritten im Stile der 30er, während Italiener und Franzosen Trends und den Zeitgeist im eigenen Sinne besetzten und so stets auf eine breite Unterstützung durch alle Schichten und Altersklassen rechnen konnte.
Vom Heiligen Reich zur Deutschen Nation
Doch warum tat sich die deutsche Rechte bis vor kurzem noch so schwer, eine europäische Lösung zu akzeptieren, und warum ist auch hier bei den meisten das höchste der Gefühle ein „Europa der Vaterländer“ (ein Begriff, den übrigens auch de Gaulles und Adenauer gebrauchten)? Die Gründe könnten zweierlei sein: eine falsche Auffassung der Reichsidee und die strategisch unkluge Europapolitik der NSDAP. Doch der Reihe nach:
Das Heilige Römische Reich war kein deutscher Nationalstaat, wie es das 2. Reich der Wilhelminischen Ära gewesen ist. Vielmehr lag Deutschland im Reich, und dieses erstreckte sich von der Nordsee bis zum Mittelmeer, von Burgund bis nach Ungarn. In ihm lebten Deutsche, Italiener, Franzosen, Flamen, Wallonen, Polen, Tschechen und Slowenen. Keinem wäre es damals in den Sinn gekommen, die verschiedenen Völker als Deutsche anzusehen oder sie germanisieren zu wollen, wie man es zum Beispiel in den 30ern mit den Sorben versucht hatte. Die einigende Klammer war das Christentum und der Herrschaftsanspruch des Kaisers, der mal mehr, mal weniger als selbstverständlich angesehen wurde. Der Kaiser verstand sowohl sich selbst als auch das Reich als Schutzmacht über alle Christen; ein Selbstverständnis, das früher oder später mit dem der Päpste kollidieren musste. Allerdings auch ein Selbstverständnis, in dem es kein Widerspruch war, dass dem Reich sowohl Königreiche, Fürstentümer und selbst Republiken wie Venedig oder Pisa unterstehen konnten.
Nun mag man einwenden, dass es doch „Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation“ hieß. Das ist natürlich richtig, doch als offizielle Selbstbeschreibung findet sich der Zusatz erst im späten 15. Jahrhundert unter dem Habsburger Friedrich III. Hierbei gilt zu beachten, dass das Reich noch immer nicht als deutscher Nationalstaat angesehen wurde. Als Fremdbezeichnung findet sich die Erwähnung des „Regnum Teutonicum“ bereits im 11. Jahrhundert, allerdings von Seiten der Päpste und deren Parteigänger, um damit auszudrücken, dass die Kaiser außerhalb der deutschen Gebiete, insbesondere in Italien, keinen Herrschaftsanspruch besitzen würden. Mit dem Zusammenschrumpfen des Reiches auf die (primär) deutschsprachigen Gebiete, dem Machtverlust der Kaiser und dem Aufkommen des Nationalismus verlor die klassische Reichsidee langsam ihre eigentliche Bedeutung.
Die national aufgeladene Deutung des Reiches fand erst während der Niederlage gegen Napoleon und der Epoche der Romantik statt. Als Franz II. 1806 auf die Reichskrone verzichtete, das Reich auflöste und die Kurfürsten, Stände etc. ihren Pflichten gegenüber dem Reich entband, handelte er im Übrigen über seine Kompetenzen hinaus. Die Auflösung des Reiches hätte der Zustimmung des Reichstages bedurft. Somit war die Auflösung de jure nicht rechtens. Doch bevor eifrige Reichsbürger diese Anekdote in ihr Argumenteportfolio übernehmen wollen, sei daran erinnert, dass leider Macht auch zugleich Recht bedeutet und wir spätestens seit Corona wissen sollten, dass Macht nicht allein auf Paragraphen beruht.
Das Ende des Reiches wurde dennoch akzeptiert. Zwar gab es von Seiten Habsburgs und von Diplomaten beider Seiten die Bestrebung, Napoleon die Reichskrone aufzusetzen, um das Reich weiterleben zu lassen, doch dieser weigerte sich. Das Rad der Zeit drehte sich unbarmherzig weiter, Napoleons Reich wurde zerschlagen, und als 1815 der Wiener Kongress endete und sich der neu gegründete Deutsche Bund die „Wiedereinführung der Kaiserwürde in Deutschland“ in einem Bundesstaat zum Ziel setzte, wurde die Reichsidee eingesargt. Zwar sah sich Österreich-Ungarn in dessen Nachfolge, doch die mühsam zusammengehaltene Doppelmonarchie konnte nicht an die alte Größe anknüpfen. Der Siegeszug des Nationalismus kippte die Erde auf den Sarg: Das 1871 gegründete 2. Reich blieb als „erste deutsche Teilung“ kleindeutsch. Die Reichsidee war nun vollends auf Staat und Volk beschränkt. Der letzte Stoß erfolgte 1918 durch den Nationalismus der Völker von Tschechien bis Serbien, als die Völker der Doppelmonarchie ihre eigenen Nationalstaaten durchsetzen konnten.
Reichsidee im Zwiespalt
Mit dem Anschluss Österreichs und der Annexion Tschechiens kam das 3. Reich zumindest territorial dem eigentlichen Reich schon näher als die Gründung von 1871. Der sakrale Anspruch blieb zögerlich, und so koexistierte ein „positives Christentum“, wie man es unter anderem schon bei Houston Stewart Chamberlain und später bei Alfred Rosenberg in Rückbesinnung auf die Lehren Meister Eckharts fand, mit einem sich neu entwickelnden Heidentum, das jedoch mit fernöstlicher Romantik und Himmler‘scher Esoterik einen sonderlichen Zweig entwickelte. Dennoch konnten sich beide, allein schon aus der kurzen Dauer von sechs Friedensjahren, nicht gegen die noch immer dominierenden christlichen Kirchen durchsetzen, der sakrale Überbau blieb in den Kinderschuhen.
In der heranbrechenden Zeit der Großmächte USA und Sowjetunion wurde der große Weltenbrand zur Prüfung, ob Europa wieder emporsteigen kann oder zwischen den neuen Mächten in die Bedeutungslosigkeit sinkt. Dutzende Denkschriften und Pläne der verschiedensten europäischen Staatsmänner wurden an Hitler versandt, ebenso viele Gesprächen wurden geführt, doch bis zum Ende blieb der Nationalrevolutionär doch ein Cäsar, ein Napoleon, um letzten Endes deren Schicksal zu teilen.
Schon wenige Jahre nach der Machtergreifung Mussolinis gab es Bestrebungen, in Europa eine „faschistische Internationale“ zu bilden, die jedoch an den noch immer zu ausgeprägten Nationalismen und Chauvinismen scheiterte. Als Hitler und Mussolini in den 30ern die Rollen der Juniorpartner tauschten, war in der offiziellen Politik keine Rede mehr von einem geeinten Europa. Erst der Weltkrieg und der Kampf gegen die Sowjetunion führten zu einer sturmhaften Renaissance. Ähnlich wie in den Einigungskriegen 1870/71 und dem Frontsozialismus in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs träumte man bezeichnenderweise vor allem in jenen Nationen von einem einigen Europa, die früher in Gänze oder Teilen zum Heiligen Römischen Reich gehört hatten.
Laut des Historikers Hans Werner Neulen vollzog der Faschismus vielerorts in den ersten beiden Kriegsjahren eine Wandlung zum Großraumnationalismus. Der Niederländer Anton Mussert, der Flame Hendrik de Man sowie anfangs der Norweger Vidkun Quisling sowie der Wallone Léon Degrelle sind hier zu nennen. Die NS-Pläne eines „Großgermanischen Reiches“ können hierzu nicht gezählt werden, da die damit einhergehende Germanisierung höchstens bei einem Teil der niederländischen Nationalsozialisten unter Pieter Keuchenius Anklang fand. Nach der deutschen Niederlage in Stalingrad 1943 stiegen nicht nur die Beitrittszahlen der europäischen Freiwilligen in der Waffen-SS, auch der europäische Nationalismus eines Jaques Doriot, Pierre Laval, Léon Degrelle, Rolf Hennes und Mussolinis nahm innerhalb der Kollaborationsparteien und der Frontsoldaten der Waffen-SS zu.
Der Spanische Bürgerkrieg, der als Vorspiel zum Zweiten Weltkrieg gesehen wird, kann auch im Hinblick auf die europäische Solidarität als solches gelten. So wie einige Jahre zuvor Freiwillige aus ganz Europa nach Spanien geströmt waren, reihten sich nun Europäer aus fast allen Nationen in die feldgrauen Reihen ein. Schlussendlich bestanden 19 der 38 Waffen-SS-Divisionen aus nichtdeutschen Freiwilligen; 231.000 der 950.000 Soldaten der Waffen-SS waren keine Deutschen. Hierbei sind noch nicht die innerhalb der Wehrmacht gebildeten Verbände wie die spanische División Azul oder die Russische Befreiungsarmee, Verbände wie die Weißruthenische Heimwehr oder das ukrainische Bataillon Nachtigall, sowie die Hilfswilligen, Polizeieinheiten und Überläufer miteingerechnet; von der zivilen Kollaboration hinter der Front ganz zu schweigen.
Dies alles war jedoch ein mühsamer Prozess, der vor allem bei den slawischen Völkern viel zu spät und höchstens halbherzig begonnen wurde. Die Werbung und Aufnahme der europäischen Freiwilligen erfolgte lange sehr widerwillig und nahm erst mit Verschlechterung der Kriegslage zu. So gab es Obergrenzen für die Bildung europäischer Verbände nebst Aufnahme von Rekruten und sehr hohe Anforderungen. So wurden zum Beispiel hunderte französische Offiziere und mehrere tausend reguläre Dienstgrade abgewiesen. In der Ukraine meldeten sich 100.000 Freiwillige, von denen nur 30.000 angenommen wurden. Auch die von Vichy-Frankreich angebotene Bildung einer regulären Armee wurde abgewiesen, und die Waffenhilfe in Afrika begrenzte die NS-Führung auf wenige hundert Mann.
Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass die Werbung, zumindest für spanische Freiwillige, auch von Franco sabotiert wurde. Als man für Freiwillige an der Ostfront warb, meldeten sich nach zwei Wochen bereits 200.000 Spanier, die noch nicht vergessen hatten, welches Leid die Kommunisten im Spanischen Bürgerkrieg verursachten. Nur rund 18.000 wurden an die Front entsendet. Im Oktober 1943 löste Franco die „Blaue Division“ auf und beorderte sie zurück nach Spanien. Von den rund 3.000, die sich dem Befehl widersetzten, kämpften noch 1945 zwei Kompanien bis zum bitteren Ende in den Ruinen Berlins.
Auch kooperationsbereiten Polen erteilte man eine Abfuhr. Dass Polen und Deutschen Seite an Seite kämpften, mag besonders im Hinblick auf den bekannten Teil der Geschichte verwundern, doch es gehört auch zur Wahrheit, dass Hitler und Marschall Pilsudski an einer politischen Annäherung der beiden Staaten gearbeitet hatten. Laut Rosenberg, Göring und dem Historiker Rolf-Dieter Müller gab es ernste Bestrebungen, gemeinsam und gegebenenfalls mit Unterstützung Englands militärisch gegen die Sowjetunion zu intervenieren. Besonders hervorzuheben ist auch Wladyslaw Studnicki, der nicht nur für ein enges Bündnis mit Deutschland eintrat, sondern auch für die Bildung eines mitteleuropäischen Staatenbundes warb, um ein Bollwerk gegen den Bolschewismus zu bilden.
Erst im März 1945 schrieb Goebbels in seinem Tagebuch, dass man in der Ostpolitik schon 1941 den Vorschlägen von General Wlassow, dem Kommandeur der auf deutscher Seite kämpfenden Russischen Befreiungsarmee hätte folgen sollen. Dieser warb um die Aufstellung russischer Freiwilligenverbände, um sie gegen die Rote Armee einzusetzen. Zu den frühen Befürwortern dieser Idee zählte beispielsweise auch der Schriftsteller Edwin Erich Dwinger. Bereits 1942 meldeten sich 250.000 Freiwillige, bis Kriegsende sollten es sogar knapp eineinhalb Millionen sein. Aufgrund der aus rassisch-ideologischen Gründen bestehenden Vorbehalten gegenüber den Slawen wurde die Russische Befreiungsarmee jedoch erst im November 1944 mit gerade einmal 50.000 Mann aufgestellt, bis Kriegsende stieg ihre Zahl auf knapp 100.000 an.
Europas Kampf um das Reich
Es bleibt ein besonderer Verdienst von Hans Werner Neulen, dass er dieses wenig beleuchtete Kapitel in seinen Werken „Europa und das 3. Reich“ und „Eurofaschismus“ akribisch und allgemein verständlich zusammentrug. So fasst er die Gemeinsamkeiten der faschistischen Europapläne in fünf Punkten zusammen:
- Der politischen Einheit muss die wirtschaftliche Einheit vorausgehen.
- Staatenbund zwischen einem konservativen „Europa der Vaterländer“ und einem europäischen Nationalstaat – also nach dem Modell des HRR.
- Europa als Abwehrblock gegen russischen und amerikanischen Imperialismus.
- Die temporäre Dominanz Deutschlands wurde anerkannt.
- Eine Unterwerfung im Sinne der vollständigen Aufgabe der Eigenstaatlichkeit gegenüber Deutschland (wie im Falle der Niederlande) oder die Rolle als Sattelitenstaat (wie in Vichy-Frankreich) wurde strikt abgelehnt.
Konkret sahen diese fünf Punkte, vor allem in der Spätphase des Krieges, eine Konföderation weitgehend unabhängiger Staaten vor, die politisch und wirtschaftlich nach außen geschlossen auftreten und, wenn auch vage formuliert, nach innen gemeinschaftliche Gesetze beschließen können, wenn diese der Einheit und Stärke Europas förderlich seien. Ähnlich wie bei den mittelalterlichen Reichstagen, sollten Vertreter aller Länder einmal im Jahr in Wien zusammenkommen, um Bilanz zu ziehen und weitere Schritte zu beschließen. Dieses Parlament sollte auch den Führer des Reiches für einige Jahre bestimmen, wobei man sich einig war, dass außer Hitler vorerst niemand anderes in Betracht käme. Wichtig war den Verbündeten, dass die Behandlung der Völker gleichwertig zu sein habe, die kulturellen Eigenarten zu achten seien und keine Nation auf den Status eines Vasallen herabgesetzt werden solle. Da alle dahingehenden Denkschriften und Gespräche mit Mussolini, Laval, Degrelle, Quisling usw. von Seiten Hitlers abgeblockt wurden, kam es jedoch nie zu konkreteren Ausarbeitungen.
Der Nationalsozialismus blieb diesbezüglich innerhalb des engeren Kreises um Hitler und der Reichsregierung konservativ. Im Gegensatz zum Faschismus verstand man den NS als eine auf die germanischen Völker zugeschnittene Weltanschauung, während der in Italien entstandene Faschismus durchaus als „Exportschlager“ auch für andere Völker und Kulturen gedacht war. So waren die teilweise doch sehr unterschiedlichen Bewegungen wie die „Parti populaire français“, die Falange, die Eiserne Garne in Rumänien und die British Union of Fascists dennoch als Faschismus erkennbar. Der Nationalsozialismus sah diese Bewegungen zwar durchaus als Partner an, paktierte andererseits aber auch mit bürgerlich-konservativen Kreisen wie Marschall Pétain (Frankreich), Miklós Horthy (Ungarn) und Ion Antonescu (Rumänien).
Zum Kriegsende hin mehrten sich jedoch auch bei den deutschen Nationalsozialisten die Stimmen, die dem Europagedanken mehr Gewicht verleihen wollten. Der Ökonom und Schriftsteller Werner Daitz, der sich anfangs noch für eine von Deutschland dominierte wirtschaftliche Großraumordnung ausgesprochen hatte, veröffentlichte Ende 1944 eine „Europa-Charta“, womit der Nationalsozialismus zu einem „Eurosozialismus“ erweitert werden sollte. Damit gewann er unter anderem die Gunst Alfred Rosenbergs. Ziel dieses Eurosozialismus sollte das friedliche Miteinanderleben der Völker unter Berücksichtigung der Wertigkeit ihrer jeweiligen Größe und Leistung sein. Um eine Ausbeutung der kleineren Völker oder gar europäische Bürgerkriege zu verhindern, sollte ein europäischer Gerichtshof über die Einhaltung der Gesetze achten. Kurz zusammengefasst: „Europäischer Gemeinnutz geht vor chauvinistischem Eigennutz.“
Trotz der Ablehnung des Europagedankens bei weiten Teilen der NS-Funktionäre ging eine kleine Zeitschrift namens „Junges Europa“ in Druck. Primär publizierten darin Studenten, Professoren und Doktoren aus ganz Europa, auch Reden und Artikel der faschistischen Führer wie Mussolini und Degrelle fanden Einzug. Über die Auflage ist nichts bekannt, auch nicht über die Rezeption, die sie in Deutschland und anderen Staaten erfuhr. Dies ist umso verwunderlicher, da „Junges Europa“ in zwölf Sprachen übersetzt wurde, darunter Italienisch, Spanisch, Französisch, Griechisch und Bulgarisch.
Noch verwunderlicher ist, dass in der kleinen Zeitschrift teilweise Aussagen fielen, die den Kriegszielen der NS-Führung sogar entgegengesetzt waren. So merkte Urnulf Tigerstedt von der Universität Helsinki richtigerweise an: „Die Idee des Nationalstaats hat ihre Größe überschritten (…)“. Ebenso prangert er das stumpfe Ziel „Hauptsache wir zertrümmern den Bolschewismus“ an, sofern zuvor nicht etwas Kommendes geschaffen werde, nämlich „das Zustandekommen des europäischen Reiches“. Und weiter: „Wie die Herzogtümer, Markgrafschaften, Republiken und Stadtrepubliken des Mittelalters in den Plan des gemeinsamen Reiches eingebaut werden konnten, so sollten doch auch die Nationalstaaten unserer Zeit unter voller Wahrung ihrer nationalen Souveränität, ihrer Fahnen, ihrer Ehre und übrigen nationalen Werte auch jetzt in einer größeren Gemeinschaft – dem europäischen Reich – zusammengefasst werden können.“ Weiterführend skizziert Tigerstedt Parallelen zwischen der Einigung der Hellenen, der Reichseinigung unter Karl dem Großen, über Napoleon bis hin zur Gegenwart und wirbt für die Synthese aus Nationalstaatsgedanken und Reichsidee.
Auch der bis heute vielgelesene Romancier Pierre Drieu la Rochelle und der Philosoph Julius Evola bezogen sich in ihren Vorstellungen von Europa auf die Reichsidee. Drieu la Rochelle sah daher Deutschland als Nachfolger des HRR besonders in der Pflicht, Europa zu einen – und wandte sich hinterher enttäuscht wieder ab. Dabei sparte Drieu nicht mit Hilfestellungen, um den Problemen der Einheit entgegenzutreten. Die Gebietsstreitigkeiten, welche beinahe alle europäischen Nationen plagten, wollte er durch Volksentscheide mit großzügigen Minderheitenrechten oder der beidseitigen Zugehörigkeit zu zwei Nationen beheben. Die Autonomie dieser Gebiete (so wie es beispielsweise Südtirol gegenwärtig fordert) war eine weitere der angedachten Möglichkeiten.
Auch Oswald Mosley, der wie Drieu nicht für eine Föderation, sondern für einen europäischen Staat eintrat, dachte gerade im Hinblick auf die Konflikte zwischen Irland und Großbritannien über diese Frage nach. Er kam zu dem Schluss, dass eine Verwischung der Grenzen sowie eine kulturelle Annäherung für Frieden sorgen könnten. Letzteres klingt bei genaueren Hinsehen weniger problematisch, da die strittigen Gebiete bis zu den großen Vertreibungen nach 1945 ohnehin von mindestens zwei ethnischen Gruppen bewohnt wurden. Die Autonomiebewegung in Oberschlesien [siehe hierzu die Podcast-Folge „Freiheit für Oberschlesien?“ der Lagebesprechung von „EinProzent“ – Anm. d. Verf.] und die Gruppe „Neuer Wanderbund“ im Elsass sind aktuelle Beispiele für eine solche Völkerverständigung.
Abschließend sei ein historisches Beispiel erwähnt, in dem die beinahe wortwörtlich aufgesetzte Pistole für Ordnung sorgte: Siebenbürgen war lange Zeit ein Zankapfel zwischen Ungarn und Rumänien. Der Streit eskalierte so sehr, dass es zu ernsten Schwierigkeiten in dem von Deutschland und Italien zusammengehaltenen Bündnis kam. Im Angesicht der vorrückenden Roten Armee verhandelten im Februar 1945 die rumänische Exilregierung der Eisernen Garde (Rumänien hatte nach einem Staatsreich im August 1944 die Seiten gewechselt) und die ungarischen Pfeilkreuzler über die Bildung einer Konföderation, da sie – zu spät! – erkannten, dass nur gemeinsam eine Überlebenschance für ein sowohl ungarisches als auch rumänisches Siebenbürgen unter der ihnen angedachten Weltanschauung bestand.
Das Zeitalter der Titanen
Dass die Probleme unserer Zeit nur durch eine europäische Zusammenarbeit zu lösen sind, ist glücklicherweise seit einigen Jahren Konsens. Dass es dazu mehr bedarf als eines „Europas der Vaterländer“, das weder den Ersten noch den Zweiten Weltkrieg verhindern konnte, ist leider in weiten Teilen der deutschen Rechten noch immer nicht in die Köpfe vorgedrungen. Mit Verweis auf die Negativbeispiele EU und USA warnt man vor heilloser Vermischung und Bevormundung, wahrscheinlich unterbewusst aus der eigenen politischen Ohnmacht heraus, dass man nichts Besseres als diese beiden Konstrukte zustande bringen könne.
Dass ein Staatenbund nicht zwangsweise die Auflösung der Völker bedeutet, beweist die Geschichte jedoch ebenso gut. Dass die Völker des Heiligen Römisches Reiches ihre Eigenarten behielten, wissen wir. Als einziger Kritikpunk kann hier die Christianisierung genannt werden, doch dieses Fass werden wir an dieser Stelle nicht auch noch öffnen. Auch in Vielvölkerstaaten wie der Russischen Föderation, China und Indien haben die dortigen Volksgruppen ihre ethnischen und kulturellen Eigenarten behalten, sofern daran nicht durch kommunistische Diktaturen mal mehr, mal weniger erfolgreich die Axt angelegt wurde.
Ernst Jünger sagte, dass wir mit dem 21. Jahrhundert in das „Zeitalter der Titanen“ eintreten werden. Hierunter sind nicht nur die aufstrebenden Staaten wie China und Indien zu verstehen, sondern auch die Globalisierung mit ihren mächtigen Großkonzernen, Zahldienstleistern und Banken. Ein Geflecht, das die Nationalstaaten so abhängig von Privatpersonen und kleinen Gruppen macht wie niemals zuvor. Allein die Auslagerung der wichtigen Produktionsstätten von Mikrochips oder die Herstellung von Medikamenten und Produkten des täglichen Bedarfs ins Ausland bedeutet das Ende der starken Nationalstaaten. Schon der Zweite Weltkrieg hatte gezeigt, dass Europa nur gemeinsam gegen eine Einflussnahme durch die USA und die Sowjetunion bestehen kann, und hier reden wir von über 70 Jahren in der Vergangenheit. Die Welt von damals liegt gemessen an den heutigen Entwicklungen mit Organen aus dem 3D-Drucker, Deepfake-Videos, Kunst durch AI und dem aufdämmernden Transhumanismus so weit zurück wie die 1940er vom Mittelalter.
Den Träumen eines genuin „deutschen“ Reiches ist somit eine Absage zu erteilen. Von den oben genannten Gründen abgesehen, fördern die Grenzstreitigkeiten lediglich neuen Hass, und Europa wird erneut zur Beute der Großmächte. Ganz abgesehen davon, ist der Menschenschlag der deutschen Ostgebiete ausgestorben. Eine Volksgruppe „neu zu züchten“ ist allein schon durch ihre verlorene Mentalität ein Ding der Unmöglichkeit. Die Leute, die man dort im Falle eine „Heimholung“ ansiedeln würde, wären keine Preußen, Schlesier oder Böhmen und würden es auch nie sein. Etwas Neues kann in Bezugnahme auf das Alte geschaffen werden, aber niemals kann das Alte in seiner gewesenen Form zurückkehren. Ein Zurück vor die großen Umwälzungen ist nicht möglich, sei es die Christianisierung, Canossa, die Reformation, die Aufklärung, die Französische Revolution, die „Stunde Null“ am 8. Mai 1945 oder das Kirchensterben. Wir können die Vergangenheit lediglich betrachten, weiterentwickeln was gewesen ist, und verwerfen, was uns nichts nützt.
Die Restauration des römischen Götterglaubens fand nach der kurzen Restauration unter Kaiser Julian sein Ende, Napoleon entthronte den restaurierten Ludwig XVIII., der wiederum Napoleon ersetzte, nur damit die Herrschaft der Bourbonen 15 Jahre später endgültig beendet wurde. Die Ansprüche der spanischen Carlisten wurden in drei Bürgerkriegen beerdigt, die Wiederrichtung des russischen Zarenreichs erfror mit der Weißen Armee in den sibirischen Weiten, und die Träume von der Wiederkehr der Habsburger und Hohenzollern, oder von reinen Kopien früherer faschistischer, nationalsozialistischer oder kommunistischer Systeme fristen ihre Existenz zwischen (halbherziger) Subkultur und dem festen Glauben, dass sich die Dinge von selbst einpendeln werden.
Das Ende des Reiches führte zu einem sich über die Jahrhunderte erstreckenden Meer aus Blut. Der Dreißigjährige Krieg, die Schlesischen Kriege und die 1918 einsetzenden Kämpfe vom Baltikum bis zum Balkan bildeten das Vorspiel zum Brudermorden, der millionenfachen Vertreibung und Zerstörung durch den Zweiten Weltkrieg, bis hin zu all den daraus resultierenden negativen Entwicklungen der Gegenwart. Das Reich als mitteleuropäische Schutzmacht war nicht perfekt, es hatte seine Fehler, wie alles Menschliche immer fehlerbehaftet sein wird. Doch die „Gnade der späten Geburt“ lässt uns sowohl diese Fehler als auch die Folgen sehen und erlaubt uns, an ihrer Behebung zu arbeiten.
Nur das einige Europa kann die Zukunft sichern. Abermillionen tote Deutsche und Europäer mahnen uns, den Kontinent gemeinsam zu befrieden. Es ist eine große Aufgabe, deren Erfüllung wir wahrscheinlich nicht mehr erleben werden. Vielleicht werden erst unsere Enkel das Ziel verwirklichen können. Doch was zählt das schon, wenn unsere Nachkommen nicht in weiteren Jahrhunderten des Brudermords leben müssen?
Literaturhinweise:
- Walther Vogel – Das neue Europa, Kurt-Schroeder-Verlag, 1925
- Oswald Mosley – Ich glaube an Europa, Klosterhaus-Verlag, 1962
- Sigrid Hunke – Das Reich ist tot. Es lebe Europa, Hans-Pfeiffer-Verlag, 1965
- Sigrid Hunke – Das Reich und das werdende Europa, Alma Druck, 1973 (inhaltlich unveränderte Neuauflage des obigen Buches)
- Hans Werner Neulen – Eurofaschismus. Europas verratene Söhne, Universitas, 1980
- Hans Werner Neulen – Europa und das 3. Reich, Universitas, 1987
- Walter Post – Hitlers Europa. Die europäische Wirtschaftsgemeinschaft 1940-1945, Druffel & Vowinckel, 2010
- Benedikt Kaiser – Eurofaschismus und bürgerliche Dekadenz, Regin-Verlag, 2011
- Till-Lucas Wessels – Europaradikal, Verlag Antaios, 2019
- Wolfgang Dvorak-Stocker (Hrsg.) – Das Reich und Europa, Ares-Verlag, 2022
Erstveröffentlichung in N.S. Heute #39
Hier ein Abonnement der Zeitschrift Nationaler Sozialismus Heute abschließen: www.nsheute.com/abo
Ausgewählte Bücher und Zeitschriften: www.sturmzeichen-versand.de