Besprechungen #11: Michel Onfray – Theorie der Diktatur

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Ist „1984“ bereits Realität?

Wir erleben gerade eine Zeit, in der die westlichen Regime in Frankreich, Deutschland, Großbritannien, Italien, den USA, Kanada und anderswo zunehmend in den politischen und gesellschaftlichen Totalitarismus abdriften. Diese sich relativ neu entwickelnde Form eines „westlichen Totalitarismus“ gründet sich weniger auf physische Gewalt und Terror, sondern auf die Durchsetzung ideologischer Dogmen und Narrative mit vielfältigen Formen sozialer Bestrafungsaktionen bei politischem Ungehorsam und sozialer Aufmüpfigkeit.

Zu den kritischen Betrachtern des politischen Zeitgeschehens, die sich heute in die dystopische Romanwelt von George Orwells „1984“ versetzt fühlen, gehört auch der französische Schriftsteller und Philosoph Michel Onfray (Jahrgang 1959), dessen Werk „Theorie der Diktatur“ der Jungeuropa-Verlag nun erstmals in deutscher Übersetzung vorlegt. Für den Gründer der „Volksuniversität Caen“, dessen Werke in mehr als 25 Sprachen übersetzt wurden, ist die Europäische Union, das „Maastrichter Imperium“, eine Gestalt gewordene Form derjenigen totalitären Gesellschaft, die Orwell in seinem Roman beschreibt. Der Autor bringt seine These auf die griffige Formel: „[Orwell] hat ein Gestern erdacht, welches ein Morgen sein könnte und sich manchmal als das Heute herausstellt.“

Onfray, der sich in den letzten Jahren als wortgewaltiger Unterstützer der französischen „Gelbwesten“ einen Namen gemacht hat, unterteilt die grundlegenden Thesen seiner „Theorie der Diktatur“ in sieben sogenannte „Hauptmomente“: die Zerstörung der Freiheit, die Verarmung der Sprache, die Abschaffung der Wahrheit, die Auslöschung der Geschichte, die Verleugnung der Natur, die Verbreitung des Hasses und das Streben nach dem Imperium.

Nach einer viel zu langen Inhaltsangabe von „1984“, wie man sie so ähnlich auch im Internet hätte nachlesen können, vergleicht der Autor seine „sieben Gebote“ mit den politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen in „Ozeanien“, dem westlichen Machtblock, in dem die Handlung des Romans spielt. Das Ergebnis, dass die Protagonisten in Ozeanien zweifellos in diktatorischen Verhältnissen leben, dürfte freilich niemanden überraschen. Die anschließende Zusammenfassung und Interpretation von „Farm der Tiere“, Orwells als Fabel verfasster zweiter Roman-Klassiker, vermag für diejenigen Leser, die mit dem Werk bereits vertraut sind, ebenfalls keine neuen Erkenntnisse zu vermitteln.

Die heißen Eisen packt Onfray erst im fulminanten Schlusskapitel an, indem er die sieben Thesen der Diktaturtheorie mit den realen Verhältnissen im „Maastrichter Imperium“ vergleicht. Der Autor zeichnet mal sachlich, mal mit einer gesunden Portion Polemik und mit philosophischen Einsprengseln das düstere Bild einer vollständig überwachten und durchregulierten Gesellschaft. Wo Onfray mit praktischen Beispielen beschreibt, wie Jugendliteratur zur „Propagierung eines postmodernen Katechismus“ missbraucht wird und Klassiker der Weltliteratur in die politisch korrekte Sprache der Herrschenden umgeschrieben werden, darf sich der Leser bereits als eine Art Guy Fawkes aus „V wie Vendetta“ fühlen, der in seinem unterirdischen Bunker klassische Bücher, Musik und Kunstgegenstände vor dem Zugriff der Diktatoren schützt und aufbewahrt.

Onfrays These, der herrschende Dekonstruktivismus würde propagieren, dass es keine objektiven Wahrheiten mehr gäbe, sondern nur noch „Perspektiven“, denen zufolge jeder das Recht auf seine „eigene“ subjektive Wahrheit hätte, steht allerdings im Widerspruch zum ideologischen Totalitarismus, wie der Autor ihn selbst mit seiner sechsten These beschreibt: Toleranz werde nur noch gegenüber seinesgleichen praktiziert, der Hass auf Andersdenkende, auf jene, „die nicht vor den geoffenbarten Wahrheiten der selbsternannten Fortschrittsgläubigen niederknien“, verhindere heute das Zustandekommen von Debatten, Diskussionen, Meinungsaustausch und Kontroversen. Andersdenkende sollen heute eben kein Recht auf ihre „eigene“ Wahrheit haben, sie sollen entweder gehorchen oder sie werden aus dem gesellschaftlichen Diskurs ausgegrenzt.

Nach der Lektüre des Abschlusskapitels fragt sich der Leser, warum sich Onfray nur so lange mit den vorangegangenen Kapiteln aufgehalten hat, denn am Ende blieb leider zu wenig Raum für eine ausführliche und tiefergehende Analyse der Gegenwart. So pointiert Onfrays Thesen sind, so streitbar sind sie teilweise auch: Der Autor entzieht sich dem überholten Rechts-Links-Schema, mal argumentiert er eher als Linker, mal als Liberaler beziehungsweise Libertärer, und ein anderes Mal dann wieder vom rechten Blickwinkel aus; von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen schafft er diesen Spagat, ohne sich dabei selbst zu widersprechen.

Von Nationalismus hält der Autor allerdings ebenso wenig wie vom kritischen Hinterfragen zeitgeschichtlicher Dogmen, dennoch bleibt unterm Strich das Buch eine lohnenswerte Lektüre, die den Leser mit der verstörenden Frage zurücklässt, wo die neue Form des Totalitarismus, in den wir gerade hineinschlittern, denn wohl enden könnte, wenn sich die Völker Europas nicht erheben und sich von ihren Unterdrückern befreien.

Erstveröffentlichung in N.S. Heute #27

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