
Neuschwanstein, das im wahrsten Sinne des Wortes sagenhafte „Märchenschloss“, träumerischer Inbegriff deutscher Romantik, aber auch voller Kitsch und Symbol fantasierender Weltentrücktheit. Ein Ausflug dorthin lohnt sich vor allem dann, wenn man nicht nur die typische Touristen-Massenabfertigung über sich ergehen lässt, sondern die Reise mit einer Wanderung im malerischen Ostallgäu verbindet.
Eine Burg für den Schwanenritter
Vom Parkplatz am Alpsee aus fährt ein Pendelbus (natürlich kostenpflichtig) direkt hoch bis Neuschwanstein. Doch warum nicht stattdessen einen Spaziergang durch den Wald unternehmen? Natürlich lassen wir den Bus links liegen und schnuppern stattdessen frische Waldluft. Auf dem Weg kommen wir an einem Restaurant vorbei, das frische Haxe anbietet, was wir uns sogleich für den Rückweg vormerken. Aber erstmal geht es weiter hoch zum Schloss, und nach etwas Wartezeit beginnt dann auch schon unsere Führung. Der Aufenthalt im Schloss ist nur im Rahmen einer Führung gestattet, was sehr schade ist, da es sich hier tatsächlich um Massenabfertigung handelt und der Besucher keine Möglichkeit hat, in den einzelnen Räumen länger zu verweilen.
Schloss Neuschwanstein gilt heute als weltweit bekanntestes Bauwerk des Historismus, wie die Epoche des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts genannt wird, die ihre geistigen Grundlagen in der Romantik hat. Der Historismus hob hervor, wie sehr der Mensch durch die Geschichte seines Volkes geprägt und in dessen Traditionen verankert ist – praktisch das genaue Gegenteil der heutigen (Post-)Moderne. Bauherr des Schlosses war der 1845 geborene bayerische König Ludwig II., der von 1864 bis zu seinem frühen Tod 1886 regierte.

Die Baugeschichte von Neuschwanstein ist eng mit dem Schicksal des Monarchen verknüpft: Nach der Niederlage Bayerns 1866 im „Bruderkrieg“ gegen Preußen verliert Ludwig II. seine Souveränität. Diese politische wie persönliche Katastrophe des psychisch labilen Monarchen führt dazu, dass er sich im Allgäu, fernab seiner Residenzstadt München, eine Gegenwelt aufbaut, die sich insbesondere im Neubau prunkvoller Schlösser manifestieren sollte. Neben Neuschwanstein sind an dieser Stelle vor allem Schloss Herrenchiemsee und Schloss Linderhof zu nennen, was Ludwig seinen späteren Spitznamen „Märchenkönig“ einbrachte.
Schloss Neuschwanstein wurde zwischen 1869 und 1892 an der Stelle der mittelalterlichen Burgruine Vorderhohenschwangau auf einem Bergrücken am Fuße des Tegelberges errichtet. Ludwig war zwar von mittelalterlichen Bauwerken begeistert, aber trotzdem ist Neuschwanstein keine Kopie irgendeines vorhandenen historischen Baus, sondern, wie es im amtlichen Führer heißt, eine „charakteristische, kompositorische Neuschöpfung des Historismus, die Architekturmotive der Wartburg, aber auch von Burgendarstellungen in mittelalterlicher (Buch-)Malerei aufweist“.
Ludwig hatte die Idee, die Burg dem „Schwanenritter“ Lohengrin zu widmen. Die Lohengrin-Sage war Ludwig bereits seit der Kindheit vertraut, im Jugendalter lernte er dann Richard Wagners gleichnamige Oper kennen und war sofort begeistert. Der Sage nach wird der Gralsritter Lohengrin auserwählt, die Königstochter Elsa zu beschützen. Nachdem er im Zweikampf den habgierigen Grafen Telramund besiegt hat, heiratet Elsa Lohengrin, den sie allerdings nicht nach seiner Herkunft fragen darf. Als sie es nach der Heirat aber trotzdem tut, erscheint der Schwan, mit dem Lohengrin gekommen war, und verwandelt sich in Elsas vermissten Bruder – Lohengrin allerdings muss wieder in die Gralsburg zurückkehren.

Die Wandmalereien in den prunkvollen Räumen und Sälen haben nicht nur die Lohengrin-Sage zum Gegenstand. Zahlreiche Motive stammen auch aus der Sigurd- und der Gudrun- Sage der altnordischen Edda (Sigurd entspricht Siegfried und Gudrun entspricht Kriemhild im mittelhochdeutschen Nibelungenlied). Hinzukommen weitere Malereien aus der Tannhäuser-Sage und der Tristan-Sage, auch christliche Motive sind reichlich vertreten. Der Besucher kann die vielen Eindrücke jedoch nur recht oberflächlich in sich aufnehmen, da die Führungen zügig vorangehen und die nächsten Touristengruppen bereits warten – bei rund 1,4 Millionen Besuchern pro Jahr bleibt wenig Zeit, um sich in einzelne Darstellungen weiter zu vertiefen.
Wanderungen im Allgäu oder ein Abstecher nach Landsberg am Lech
Nach der Führung unternehmen wir einen Spaziergang zur Marienbrücke, die über die Pöllachtschlucht führt – und stellen fest, dass wir nicht die einzigen waren, die diese Idee hatten. Auf der Marienbrücke gibt es ein regelrechtes Völkertreffen mit Touristen aus aller Welt, die von der Brücke aus die Sicht auf Schloss Neuschwanstein genießen. Wer neben dem Massentourismus auch etwas von der stilleren Natur in den Ammergauer Alpen erleben will, kann von Neuschwanstein aus zum Beispiel den 2.047 Meter hohen Säuling-Gipfel besteigen, oder, wer es lieber etwas flacher haben will, eine Runde um den Alpsee drehen. Für historisch interessierte Zeitgenossen ist ein Abstecher in das nahegelegene Städtchen Landsberg am Lech sicherlich interessant, in dessen Haftanstalt einmal sehr bekannte Persönlichkeiten gesessen haben – und damit sind nicht Uli Hoeneß und Alfons Schuhbeck gemeint.

Wen es abschließend noch interessiert, wie eigentlich der Bauherr von Schloss Neuschwanstein, Ludwig II., sein Ende gefunden hat: In seinen letzten Lebensjahren machte Ludwig zunehmend die Nacht zum Tage und flüchtete sich immer mehr in seine mittelalterliche Parallelwelt. Anfang Juni 1886 wurde er durch ein Regierungskomplott entmündigt, in Neuschwanstein verhaftet und in Schloss Berg am Starnberger See interniert. Um seinen mysteriösen Tod ranken sich bis heute zahlreiche Legenden. Wahrscheinlich beging er am 13. Juni 1886 während eines Spaziergangs Selbstmord im Starnberger See. Ironie des Schicksals: Der ihn begleitende Psychiater Bernhard von Gudden, der das auslösende Gutachten verfasst hatte, fand bei dem Versuch, den König zu retten, ebenfalls den Tod.
Erstveröffentlichung in N.S. Heute #45