So manchen armen Jungen lege ich nur den deckenden Verband auf seine Wunde, gebe ihm zur Linderung seiner Qualen die Morphium-Einspritzung, bette ihn abseits im Graben. Vor meinen Augen schläft er dann ein, um nicht mehr zu erwachen. (S. 89)
Mehr als ein Jahrzehnt nach dem Ende des Ersten Weltkriegs erschien 1929 das autobiographische Buch „Der unbekannte Soldat – Erlebnis und Gedanken eines Truppenarztes an der Westfront“ von Dr. Erich Meyer im Münchener J.F.-Lehmanns-Verlag. Das in Leinen gebundene Buch beinhaltet auf 97 Seiten samt Vorwort die Erlebnisse des jungen Truppenarztes Erich Meyer währender der Kriegsjahre 1917/18. Sowohl im Vorwort als auch im Haupttext erfährt der Leser recht wenig über die private Situation des Verfassers in der Vergangenheit oder über seine damalige Situation im Jahre 1929. Das Vorwort weist dem Buch zweierlei Bedeutung zu: nämlich ein Denkmal für die gefallenen, zumeist jungen Helden zu sein als auch eine Mahnung an die Lebenden, den Helden kraftvoll nachzueifern.
Fortlaufend beschreibt Meyer in acht Kapiteln seine Eindrücke an der Westfront. Von Flandern, Belgien über (Nord-)Frankreich, Saint-Quentin, den Vogesen, das Dorf Kemmel, die Somme bis hin zum Kanton Albert werden in stets gleichem Aufbau die Erlebnisse geschildert. Zunächst beschreibt Dr. Meyer, gleich einer Bestandsaufnahme, die örtlichen und geographischen Gegebenheiten sowie das Wetter und den Zustand der Ortschaften. Unter konkreter Angabe von Kalenderdaten berichtet er zu Beginn noch recht kühl von Tagesabläufen, dem Kriegsalltag und dem allgemeinen Geschehen. Die Wetterbeschreibungen wirken teilweise etwas poetisch ausgeschmückt, obgleich ich den Wahrheitsgehalt angesichts des Hochsommers und der Region nicht absprechen möchte. Anschließend werden einige Kameraden namentlich erwähnt, die dem Autor aufgrund besonderer Treue oder gemeinsamen Kriegserfahrungen im Gedächtnis geblieben sind. Gegen Ende eines jeden Kapitels wendet sich Dr. Meyer jeweils direkt an einen oder mehrere Kameraden und fragt sich, was aus ihnen wohl geworden sei. Oder er beklagt in wenigen Sätzen, jedoch mit eindringlicher Emotionalität, deren Heldentod und erinnert an ihre unbedingte Treue und Kameradschaft.
Die Schilderungen, mit welcher Intention er beispielsweise Ausbildungsschulungen durchführte oder wie der generelle Dienst eines Truppenarztes mit dessen Idealismus verknüpft ist, geben Einblick in den Charakter und die Denkweise des Autors. Die oft erwähnten Tugenden von Kameradschaft und Treue weisen auf eine grundsätzliche Notwendigkeit an Verbundenheit, Zuverlässigkeit und Vertrauen im Kriegsalltag aller beteiligten Soldaten hin – ganz gleich, welcher Truppe oder Einheit man angehört: „Meine Sanitätsmannschaften sollen es lernen, dass Sanitätsdienst Liebesdienst am leidenden Kameraden ist, kein Kommissdrill.“ (S. 24). Oft auch entgegen der Vorstellungen seiner Vorgesetzten sah Dr. Meyer den Dienst eines Truppenarztes direkt an der Front, wo den verwundeten Kameraden sofort geholfen werden konnte, auch unter Einsatz des eigenen Lebens. Nach den Kapiteln über siegreiche Schlachten und einer scheinbaren „Entspannung“ tun sich letztlich zum Kriegsende grausige Szenerien auf. Nicht selten wird der Truppenarzt nun zusätzlich zum Seelsorger und Kraftspender.
Tatsächlich bin ich rein zufällig auf dieses, nur antiquarisch erhältliche Buch gestoßen. Ich dachte, es könnte durchaus interessant sein, einmal Kriegserlebnisse aus der Sicht eines Arztes zu lesen – und ich wurde nicht enttäuscht! Gerade die kurzen, aber dafür umso emotionaleren Absätze über Kameradenverlust oder die schlichte Schilderung der Weihnachtsfeier an der Westfront 1917 lassen beim Leser Ehrfurcht aufkommen, nicht zuletzt in Anbetracht dessen, dass die Geschehnisse nur etwas länger als ein Menschenalter her sind und durch was für wahrlich schwere Stunden die jungen Helden unseres Volkes gehen mussten. Selten kommt bei mir das Gefühl auf, ein Buch auch ein zweites Mal lesen zu wollen, doch bei diesem Buch hatte ich es.
Erstveröffentlichung in N.S. Heute #38
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Danke für diesen Buchtip. Ich werde sehen, ob ich es auch bekomme. Diese „alten“ Bücher sind tausendmal besser als der Spiegelbestsellerlisten-Scheiß…