„100 Jahre Marsch auf Rom“ (Teil 1/5): Fiume 1919/20 – Der Urknall der faschistischen Epoche in Europa

Gabriele D’Annunzio (Bildmitte) im Kreise von Arditi

Zum 100. Jahrestag der faschistischen Machtübernahme Benito Mussolinis durch den „Marsch auf Rom“ am 27. Oktober 1922 veröffentlichen wir eine fünfteilige Serie über den italienischen Faschismus.

Im zum Dreibund, mit dem Deutschen Reich und Österreich-Ungarn, gehörenden Königreich Italien gab es schon lange vor dem Ersten Weltkrieg eine irredentistische Bewegung. Dieser Panitalianismus zielte darauf ab, alle Gebiete mit starker italienischer Bevölkerung südlich des Alpenkamms an Italien anzugliedern. Dazu gehörten das Trentino, Triest, Dalmatien, das Tessin und Istrien. Die meisten dieser „zu erlösenden Gebiete“ gehörten damals zur k.u.k. Monarchie.

Um Italien weg von den Mittelmächten und auf die Seite der Entente zu ziehen, wurde am 26. April 1915 in London ein Geheimvertrag geschlossen. Darin wurden Italien bei einem Kriegseintritt auf Seiten Frankreichs und Großbritanniens große Versprechungen gemacht. So sollte Italien seine Alpengrenze bis zum Brenner vorverlegen (Südtirol), zudem sollte es Istrien, Dalmatien (außer Fiume), Libyen, Eritrea sowie Teile Kleinasiens erhalten. Am 23. Mai 1915 erklärte Italien daraufhin Österreich-Ungarn den Krieg. Etwas über ein Jahr später, am 26. August 1916, erfolgte die italienische Kriegserklärung an Deutschland.

So wandelte sich der führende Sozialist Benito Mussolini zum Nationalisten, wurde aus der sozialistischen Partei ausgeschlossen und diente als Bersagliere (Infanterist) an der Front. Auch der schon zu Zeiten der „Belle Epoche“ bekannte Poet und Schriftsteller Gabriele D’Annunzio wurde zum glühenden Interventionisten und meldete sich mit 52 Jahren noch zu der jungen Fliegertruppe. Der schmächtige Dichter wurde zu einem Haudegen und Kriegshelden. So warf er 1915 von einem Aufklärungsflugzeug aus Flugblätter über Triest und Trient ab. Im Jahre 1916 verlor er bei einer harten Landung das rechte Auge. Sein größter Propagandaflug gelang ihm am 9. August 1918. Mit dem Geschwader „La Serenissima“ absolvierte er einen 1000-Kilometer-Flug bis über Wien und warf dort von seinem Caproni-Bomber anstatt Bomben Flugblätter ab. Alle Maschinen landeten wohlbehalten wieder in Italien, außer eine, die in Wiener Neustadt notlanden musste. Für die damalige Zeit und deren Stand der Flugtechnik eine einmalige Leistung. Die k.u.k. Flugabwehr war von diesem Coup total überrascht. D‘Annunzios Schlachtruf, den erst seine Staffel und später auch andere Einheiten übernahmen, darunter die legendären Arditi, stammt aus der altgriechischen Mythologie und lautete: „Eja, Eja, Eja, Alala!“

Postkarte mit dem Bild eines Arditi und dem Schlachtruf „A Noi!“ („Zu Uns!“)

Freischärler übernehmen Fiume

Als die Waffen schwiegen, nahmen es die Entente-Mächte mit den Versprechungen gegenüber Italien nicht mehr so genau. Zugunsten des neu gegründeten „Königreichs der Serben, Kroaten und Slowenen“ (später Jugoslawien genannt) sollte Italien auf Dalmatien verzichten. Fiume sollte Freistaat werden. Gabriele D‘Annunzio sprach vom „verstümmelten Sieg“.  In Dalmatien standen italienische sowie serbo-kroatische Truppen. In Fiume drohten Unruhen. Dort bildete sich ein aus Italienern bestehender Freiwilligenverband. Die serbo-kroatischen Truppen zeigten Bereitschaft, Fiume zu verlassen, die militärische Kontrolle übte daraufhin ein Kommando aus italienischen, französischen, britischen und us-amerikanischen Truppen aus. In Italien wurde der Ruf nach dem Anschluss Fiumes an das italienische Mutterland immer lauter, angestachelt durch den Aktionismus von Gabriele D‘Annunzio. In Versailles jagte eine Konferenz zwischen Italienern und den anderen Entente-Staaten die nächste. Besonders US-Präsident Wilson wollte die Interessen des neuen südslawischen Königreichs wahren.

Am 12. September 1919 schritt D‘Annunzio zur geplanten Aktion. Mit 2.500 Legionären, bestehend aus Arditi, sardischen Grenadieren, Infanteristen und Abenteurern, auf vorher aus einem Fuhrpark entwendeten Lastwagen, verstärkt durch Panzerautos, marschierte er unter großem Jubel in Fiume ein. Die Arditi sangen beim Einmarsch ihr Lied „Giovinezza“ (Jugend). Verstärkt wurde die Legion durch den bereits bestehenden Fiumer Freiwilligenverband. Vom Balkon des Gouverneurspalastes proklamierte der Dichter und Kriegsheld die Annexion Fiumes. D‘Annunzio übernahm den Oberbefehl als „Comandante in capo“.

Die amerikanischen und britischen Truppen verließen ein paar Tage später Fiume, eine Woche nach deren Abzug auch die französischen. Vier im Hafen liegende italienische Kriegsschiffe wurden von D‘Annunzio beschlagnahmt, der befehlshabende italienische Admiral geriet in die Gefangenschaft der Freischärler. Es wurde ein „Büro für Handstreiche“ eingerichtet, das durch Kaperungen auf der Adria Fiume mit Waffen und Nachschub versorgte. Am 18. September 1919 rief Mussolini zu einer nationalen Unterschriftensammlung für Fiume auf, am 7. Oktober trat er in der Stadt seinen Besuch an.

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75 % von D‘Annunzios Streitmacht bestanden aus Arditi (übersetzt etwa: mutig, kühn, feurig). Die Arditi waren das italienische Pendant zu den deutschen und österreich-ungarischen Sturmbataillonen. Sie trugen im Gegensatz zur regulären Infanterie Kniebundhosen, schwarze Hemden, Jacken mit offenem Kragen, einen schwarzen Fez und römische Kampfdolche. Sie hatten auch eine bessere Besoldung, Versorgung und Unterbringung als die reguläre Linieninfanterie. Ihre Waffenfarbe war Schwarz und als Abzeichen führten sie einen Gladio (Kurzschwert), eine schwarze Flamme und einen Totenkopf, der ein Messer im Gebiss hält. Im Gegensatz zu den deutschen und österreichisch-ungarischen Sturmbataillonen waren die Arditi nicht nur auf Stoßtruppunternehmen angelegt, sondern sollten sich auch bis zum Nachrücken der regulären Infanterie in den eroberten Schlüsselstellungen festbeißen. Nach erledigtem Auftrag wurden sie aus der Front herausgelöst, verblieben also nicht in den Schützengräben, sondern wurden per LKW in Ruheräume hinter der Front verlegt.

Besonders durch die Kriegspropaganda wurden die Arditi in Italien ein Teil der populären Kultur, so gab es beispielsweise viele Arditi-Motive auf Postkarten. Dieser Typus eines neuen, modernen Kriegers, dessen Einheiten noch nicht demobilisiert waren, die den Stoßtruppkrieg noch im Blut hatten und mit Verachtung auf das Zivilleben blickten, bildete das Rückgrat von D‘Annunzios Freischärlern in Fiume. So schwärmte der Dichtersoldat: „3. Oktober. Bei den Arditi. Gegen Abend. Das wahre Feuer. Die Rede, die gierigen Gesichter – Die Rasse aus Flamme. Die Chöre – Die offenen, klangvollen Lippen – Die Blumen, der Lorbeer. Der Ausgang. Die Dolche nackt in der Faust. Eine ‚Grandezza‘, die ganz römisch ist. Alle Dolche hoch. Die Rufe. Der begeisterte Lauf der Kohorte. Das Fleisch auf Holzglut gebraten. Die auflodernde Flamme brennt im Gesicht – Das Delirium des Mutes. Rom: das Ziel!“

Die Arditi – Vorbild für die späteren Faschisten

Gabriele D‘Annunzio sah sich als zweiter Garibaldi. Vom Balkon des Regierungspalastes hielt er seine flammenden Reden vor den aufmarschierten Legionären und Einwohnern. Täglich gab es Feste und Aufmärsche. In Fiume entstand unter dem Regime des „Comandante“ eine neue Lebensart. Ein von alten Konventionen losgelöstes, fast schon anarchisches Kriegerleben. Idol und Mittelpunkt war der „Comandante“.

D‘Annunzio legte die Geometrie der Aufmärsche seiner uniformierten Gefolgschaft fest. Die Fahne der Legionäre zeigte einen römischen Adler mit ausgebreiteten Schwingen. Auch sieht man auf den historischen Fotos jener Zeit Arditi in schwarzen Vorläufern der heutigen T- und Sweatshirts mit aufgedruckten weißen Totenköpfen. In Fiume entwickelte sich embryonenhaft das, was später im faschistischen Italien und nationalsozialistischen Deutschland perfektioniert an der Tagesordnung sein sollte: Uniformierte, in Blöcken gegliederte, martialische Massenaufmärsche und Paraden. Auch der Totenkult wurde in Fiume bereits zelebriert. So gab es dort eine große Begräbnisfeier für die abgestürzten Piloten Bini und Zeppegno.

Die Uniformierung der Arditi (Schwarzhemd, Fez, römischer Dolch) wird bestimmend für die Squadristi und später für die faschistische Partei und die Miliz. Das Schwarzhemd wird zum Inbegriff des faschistischen Italien, wie das Braunhemd für das nationalsozialistische Deutschland. Die „Giovinezza“ als Lied der Arditi wird zum faschistischen Kampflied. Nach der faschistischen Machtübernahme wird es gleich nach der Nationalhymne gespielt werden, so wie das Horst-Wessel-Lied im Dritten Reich. Parolen und Kampfrufe der Arditi werden von den Faschisten übernommen, so zum Beispiel „A Noi“ (Zu Uns) und „Me ne frego“ (Ich pfeif‘ drauf). Auch der Schlachtruf D‘Annunzios aus dem Ersten Weltkrieg „Eja, Eja, Eja, Alala!“ taucht später in faschistischen Kampfliedern wieder auf. Der Arditi-Totenkopf wird ab 1943, zu Zeiten der Repubblica Sociale Italiana (RSI), bei den „Schwarzen Brigaden“ als Feldzeichen getragen. Bald verwenden die Faschisten Standarten mit römischem Adler, was von den Nationalsozialisten in Deutschland begeistert übernommen werden sollte.

Legionäre bei Kampfhandlungen während der „Blutigen Weihnacht“

D‘Annunzios Ambitionen gingen weiter. Er wollte von Fiume aus die Aufstellung und Bewaffnung von anti-serbischen Rebellenarmeen in Albanien, Montenegro und Kroatien organisieren, um den neuen südslawischen Vielvölkerstaat zu zerstören. Für Fiume selbst arbeitete er eine eigene Verfassung aus, um der Schaffung eines Freistaates zuvorzukommen.  Doch am 12. November 1920 wurde zwischen Italien und dem Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen der Vertrag von Rapallo geschlossen. Italien erhielt Istrien zugesprochen, Fiume wurde Freistaat. Am 17. Dezember 1920 unterzeichnete der Senat in Rom den Rapallo-Vertrag. D‘Annunzio wurde aufgefordert, Fiume zu räumen und seine Streitkräfte aufzulösen. – Irgendwie erinnert das an die damalige deutsche Reichsregierung, die auch den Baltikum- und Oberschlesienkämpfern in den Rücken fiel.

Am 21. Dezember 1920 erklärte Gabriele D‘Annunzio Italien den Krieg. Zwischen dem 24. und dem 26. Dezember 1920 kommt es zur sogenannten „Blutigen Weihnacht“, als das italienische Schlachtschiff „Andrea Doria“ den Fiumer Regierungspalast beschießt. D‘Annunzio entkam knapp dem Tode. Seine Legionäre, hauptsächlich Arditi, lieferten sich Schießereien mit italienischen Truppen. Es gab über 30 Tote. D‘Annunzio erklärte seinen Rücktritt und verließ am 31. Dezember 1920 Fiume. 

Was in Fiume begann, sollte auf dem italienischen Festland, hauptsächlich in Ober- und Mittelitalien, fortgesetzt werden. Unter der Führung von Benito Mussolini formierten sich schon bald die „Fasci di Combattimento (Faschistischen Kampfbünde) zum „Marsch auf Rom“…

Erstveröffentlichung in N.S. Heute #12

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